Berlinale 2014 (Teil 3)

Der siebte Tag der Berlinale beginnt direkt mit einem Highlight, denn es gibt mit BOYHOOD den wohl interessantesten Film zu sehen. 

BOYHOOD

BoyhoodSeit 2002 arbeitet Richard Linklater an diesem einmaligen Spielfilmprojekt, das alljährlich die gleichen Darsteller vor der Kamera versammelt. So bekommt der Zuschauer die Möglichkeit, Menschen über einen längeren Zeitraum beim Leben zuzuschauen – mit allem was dazugehört. Experimentierfreudig und mit offenem Blick folgt er dem Jungen Mason aus Austin von den schulischen Anfängen bis zum Eintritt ins College. Er muss mit einer anstrengenden Schwester und geschiedenen Eltern fertig werden. Den freakigen Vater, der irgendwann doch erwachsen wird, spielt Ethan Hawke, Patricia Arquette die alleinerziehende Mutter, die stets an die falschen Männer gerät und nebenbei ihr Studium erledigt. Mitten in diesem Lebens- und Gefühlschaos steht Mason (Ellar Coltrane), dessen kluge Kommentare mit jedem Jahr klüger werden. Mit weitreichendem erzählerischem Atem inszeniert, geht es hier um kleine und große Sehnsüchte und Sorgen, um die Bedürfnisse und Ängste eines Heranwachsenden, die sich zu einem hellsichtigen und kurzweiligen Panorama einer amerikanischen Kindheit und Jugend fügen.

Fazit:
Für mich der beste Film der Berlinale. Auf der Abschlusspressekonferenz zeigen dann die versammelten Kollegen, dass ich mit dieser Meinung nicht allein darstehe. Während alle anderen prämierten Beiträge höflichen Applaus erhalten, bekommt das BOYHOOD-Team um Richard Linklater stehende Ovationen. Mehr dazu in der ausführlichen Kritik zum Filmstart.

 

Am siebten Tag soll das der einzige Film bleiben. Aber nach einem solchen Meisterwerk kann sowieso nichts Besseres kommen. Am achten Tag geht es dann mit französischem Bombast weiter

DIE SCHÖNE UND DAS BIEST

Die-Schöne-und-das-BiestIm Jahre 1810 treibt ein Schiffbruch einen wohlhabenden Händler und Vater dreier Töchter und dreier Söhne in den finanziellen Ruin. Die Familie zieht aufs Land und lebt fortan in ungewohnt ärmlichen Verhältnissen. Nur die Jüngste, die anmutige Belle, kann sich für die ländliche Idylle begeistern. Doch das Schicksal schlägt ein zweites Mal zu. Als der Vater in einem verwunschenen Schlossgarten eine Rose für Belle pflückt, wird er vom Besitzer, einem Ungeheuer, zum Tode verurteilt. Furchtlos begibt sich Belle anstelle des Vaters in den Palast, bereit sich zu opfern. Doch dort erwartet sie nicht der Tod, sondern ein merkwürdiges Leben, erfüllt von Magie, Luxus und Melancholie. Jeden Tag, ohne Ausnahme, isst Belle gemeinsam mit dem Biest zu Abend. Jede Nacht wird sie von Träumen heimgesucht, die die tragische Vergangenheit des Biests enthüllen. Das Untier verspürt ein immer stärker werdendes Verlangen nach der schönen, jungen Frau. Die nutzt ihren Mut, um das Geheimnis des bösen Zaubers zu entdecken, unter dem ihr unheimlicher Bewunderer leidet.

Fazit:
Wieder einmal liegt die Verfilmung des weltbekannten Märchens vor und trotz der opulenten Optik liefert Regisseur Christophe Gans keinen einzigen Grund, die dieser Neuverfilmung ihre Berechtigung verleiht. Hübsch anzusehen, aber mehr eben auch nicht.

GALORE

Der Sommer ist heiß und trocken. In den Bergen steigen Rauchsäulen auf, in wenigen Tagen schon werden die Waldbrände bis an die Häuser reichen. Billie und Laura kennen sich ewig. Die beiden Mädchen verbringen viel Zeit miteinander, lackieren sich gegenseitig die Fußnägel und reden über alles – fast alles. Denn Billie schläft mit Lauras Freund Danny, heimlich im Auto am Ufer des Flusses. Keiner von beiden bringt den Mut auf, die Sache mit Laura zu klären. Dabei wollen sie doch alles richtig machen. Die Jugendlichen haben Spaß an der Badestelle, treffen sich abends auf Parkplätzen und Partys. Die Musik ist wild und laut, der Alkohol fließt reichlich, und Joints machen die Runde. Manchmal flippt einer aus. Dass keiner von Billies und Dannys hoffnungsloser Liebe erfahren darf, ist kaum auszuhalten. In ihrer Verwirrung klaut Billie auf einer Party ein Auto, eigentlich nur so zum Spaß.

Fazit:
Auch ein Abstecher in die Jugendfilmreihe „Generation Kplus“ muss sein und so führt mich dieses Ansinnen zu einer echten Perle des Genres. Das Erstlingswerk des australischen Regisseurs Rhys Graham weiß durch eine eingängige Geschichte und fantastische Jungdarsteller zu überzeugen. Dieser Film hätte es wie kein anderer verdient, einen deutschen Kinostart zu erhalten.

THINGS PEOPLE DO

Um Scanlin steht es schlechter, als er zugibt. Ohne Wissen seiner Familie hat er den Job verloren, weil er es den Kunden der Versicherung bei der Beantragung von Schadensersatz nicht schwer genug gemacht hat. Er kann seine Hypothek nicht zahlen, und die Bank zeigt kein Verständnis. Ihm droht der vollkommene Ruin. Wie viele US-Amerikaner steht er unter gewaltigem finanziellem Druck. Scanlins streng moralische Weltanschauung beginnt zu bröckeln, er identifiziert sich mit dem Hund, der um seinen Neubau am Rand der Steppe herumstreunt, Müll frisst, aus dem Pool säuft. Aus purem Überlebensdrang wird Scanlin zum Räuber, verwandelt sich in einen modernen Robin Hood, der seine Opfer genau auswählt, ihnen eine Lektion erteilt – und endlich wieder Geld ins Haus bringt. Sein neuer Freund ist ein Polizist, der das Gesetz nicht so eng sieht. Eine Welt der Doppelmoral tut sich vor Scanlin auf.

Fazit:
Der Regisseur Saar Klein, der bislang als Cutter gearbeitet hat, legt hier ein eindrucksvolles Regiedebut vor, in dem er den Status Quo der USA offenlegt. Mit viel Feingefühl und wunderbaren Nuancen schildert er das Leben der Verlierer der Finanzkrise.

TAPE_13

Tape-13Ann und Gero, ein junges Liebespaar, haben auf ihrer Reise durch Europa in der Eifel eine Autopanne und werden von Vinzent und Franzi eingeladen, ein unkompliziertes Partywochenende in einem abgelegenen Ferienhaus zu verbringen. Nach einer spielerischen „Geisterbeschwörung“ schlägt die gute Stimmung in mulmiges Unbehagen um, als sich seltsame Vorkommnisse häufen: Der Strom fällt immer wieder aus, aus dem Wald kommen seltsame Geräusche, Wasserhähne fangen selbstständig an zu laufen, Taschen finden sich durchwühlt. Wer oder was steckt hinter diesen Ereignissen? Ist es der alte Kauz im Wald, der die Gruppe zu beobachten scheint? Der überdrehte Vinzent, der großen Spaß daran hat, anderen Angst einzujagen? Gero, der mit seiner Kamera einfach alles und jeden filmt und hier vielleicht seine ganz eigenen Ideen von einem drastischen Horrorfilm auslebt? Oder schlummert in dieser verdammten Hütte ein Geheimnis, finsterer als irgendjemand vermuten würde?

Fazit:
Im zweiten Film der „Midnight Movies“ gibt es das Regiedebut von Axel Stein zu sehen, dass allerdings bis heute keinen Verleih gefunden hat. Das liegt vermutlich in erster Linie an den vielen kleinen dramaturgischen Schnitzern, die sich Stein erlaubt hat. Wenn beispielsweise das amerikanische Austauschpärchen ohne Ortskenntnisse bei der Flucht aus dem abseits gelegenen Haus dazu entscheidet, die „Abkürzung“ durch den Wald zu nehmen. fasst man sich als Zuschauer fassungslos an den Kopf. Das üben wir bitte noch mal, Herr Stein. Ansonsten bleiben wir bitte bei der Schauspielerei, denn das funktioniert wunderbar!

 

Am neunten Tag gibt es nur einen einzigen Film zusehen, aber der hat es in sich.

Das Mädchen Hirut (Difret)

DiffretAnwältin Meaza Ashenafi hat in Addis Abeba ein Netzwerk gegründet, das mittellosen Frauen und Kindern kostenlosen Rechtsbeistand gewährt. Mutig setzt sie sich gegen alle Schikanen von Polizei und männlichen Regierungsvertretern zur Wehr. Als sie den Fall der 14-jährigen Hirut übernimmt, die auf dem Heimweg von der Schule entführt und vergewaltigt wird und auf der Flucht ihren Peiniger erschießt, setzt sie alles auf eine Karte. Hirut, des Mordes angeklagt, droht die Todesstrafe, auch wenn sie in Notwehr gehandelt hat. Denn auf dem Land gilt in Äthiopien nach wie vor die Tradition der „Telefa“, der Entführung zum Zweck der Eheschließung.

Fazit:
Das Wort „difret“ hat doppelte Bedeutung: Es heißt „mutig sein“, aber auch „vergewaltigt werden“. Der auf wahren Begebenheiten beruhende Film fragt nach einem möglichen Aufbruch des Landes in die Moderne und danach, was geschieht, wenn jahrhundertealte Traditionen gebrochen und Glaubenssätze aufgekündigt werden. In schockierenden, aber auch versöhnlichen Bildern schildert der Film eine eindrucksvolle Geschichte, die noch lange nachhallt. In Deutschland startet der Film am 12. März 2015.

 

Ich beende meine erste Berlinale mit einem Film mit der Grande Dame des französischen Kinos: Catherine Deneuve.

DANS LA COUR

Dans-la-CourEin Pariser Hinterhof, seine liebenswerten, skurrilen Bewohner und Bewohnerinnen, ihre Sorgen und Sehnsüchte stehen im Mittelpunkt der schrägen Tragikomödie. Mit den Augen des neuen Hausmeisters Antoine lernen wir die Mieter kennen. Da ist der mit Drogen dealende Fahrraddieb, der den Hof mit seinen Rädern zustellt. Und der Zwangsneurotiker, der alles sauber und leer geräumt sehen möchte. Im obersten Stock wohnt Mathilde mit ihrem Mann, sie ist gerade in Rente gegangen und versucht nun, ihren Alltag neu zu gestalten. In der verunsicherten Frau erkennt Antoine eine Seelenverwandte, denn auch sein Leben befindet sich im Umbruch. Ohne ein Wort zu sagen, hat der 40-jährige Musiker während eines Konzerts die Bühne verlassen. Der Hof ist sein Rückzugsort, den er nur kurzzeitig verlässt, etwa um für die Begrünung im Park Rosenstöcke zu klauen. Als Mathilde in der Wohnzimmerwand einen Riss entdeckt, denkt sie, dass das Haus vom Einsturz bedroht ist. Unter der empathischen Regie von Pierre Salvadori wird der Riss in der Wand zur Metapher für den Riss durchs Leben. Endlich dürfen verdrängte Gefühle wie Einsamkeit und Zukunftsangst zum Vorschein kommen…

Fazit:
Ein wundervoller Abschluss der Berlinale. Die fantastische Catherine Deneuve in einem typisch französischen Film. Besser geht es kaum. Ein Wunder, dass der Film bis heute keinen deutschen Verleih gefunden hat.

 

Zehn Tage Berlinale gehen somit zu Ende. Zehn Tage voller fantastischer Filme, ein paar wenige Flops, aber umso mehr wunderbare Gespräche und interessante Bekanntschaften. Ich freue mich auf 2015 und meine zweite Berlinale.

Teil 1 der Berlinale-Berichterstattung

Teil 2 der Berlinale-Berichterstattung

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