Vor 12 Jahren, im Jahr 2002, hatte Regisseur Richard Linklater die Idee, einen Film über die Kindheit zu drehen. Dafür wählte er ein einzigartiges cineastisches Experiment: Von 2002 bis 2013 begleitete er den sechsjährigen Mason (Ellar Coltrane) bis zum Eintritt ins College. Kurze, über die Jahre verteilte Episoden aus dem Leben von Mason und seiner Patchwork-Familie – seine zwei Jahre ältere Schwester (Lorelei Linklater) und seine geschiedenen Eltern (Patricia Arquette, Ethan Hawke) – montierte Linklater zu einer berührenden Coming-of-Age-Geschichte.
Was für ein Aufwand für einen einzigen Film – aber was für ein berührendes Ergebnis für einen einzigen Film! Mit BOYHOOD schreibt Richard Linklater Filmgeschichte, und das ist keinesfalls übertrieben.
Als ich BOYHOOD zum ersten Mal im Februar während der Berlinale sah, wusste ich grob, worum es ging und erwartete einen außergewöhnlichen Film. Doch die Art und Weise, auf die mich der Film in Laufe seiner (niemals auch nur eine Sekunde zu lang wirkenden) 166 Minuten in den Bann gezogen hat, mag man kaum in Worte fassen. Um so ergreifender die anschließenden Pressekonferenz, in der Linklater zusammen mit seinen Darstellern und seiner Produzentin ein wenig Einblick gab, wie aufwendig der Dreh war.
Was wäre, wenn einer der Darsteller mit Beginn der Pubertät keine Lust mehr verspüren würde, weiter mitzuwirken? In der Tat gab Lorelai Linklater, ihres Zeichens die Tochter des Regisseurs und Darstellern der Schwester von Mason, in der Pressekonferenz zu verstehen, dass sie ihren Vater etwa im Alter von 14 Jahren gebeten habe, ihre Figur doch einfach sterben zu lassen. Zum Glück der Zuschauer ist das aber nicht geschehen.
Auf die Frage, wie man überhaupt auf die Idee kommt, einen Film zu finanzieren, der frühestens 12 Jahre später das erste Geld einspielen würde, sagte die Produzentin Cathleen Sutherland nur zutruffend, dass man manchmal an die Magie des Kinos glauben müsse und hin und wieder dafür auch ungewöhnliche Wege gehen muss.
Doch was macht BOYHOOD nun so besonders? Das ist eigentlich schwer zu sagen, denn die Geschichte, die erzählt wird, ist im Prinzip recht simpel und folgt lediglich einer Familie. Interessant ist die Art und Weise der Erzählung: Richard Linklater erklärt zum Beispiel nicht, in welchem Jahr wir uns befinden. Aber durch kleine Musikschnipsel oder Bilder oder nur durch den einfachen Spruch „Four More Years“ weiß man als Zuschauer die aktuelle Szene sofort zeitlich einzuordnen. Das ist umso bemerkenswerter, geschieht dieser Prozess noch völlig unterbewusst.
Warum BOYHOOD in Berlin nicht den goldenen Bären gewonnen hat, mag einer politischen Entscheidung geschuldet sein. Auf der Abschluss-Pressekonferenz der Berlinale, auf der alle Preisträger noch einmal vorgestellt wurden, wurde einzig das Boyhood-Team mit Standing Ovations begrüßt. Damit brachten die anwesenden Kollegen klar zum Ausdruck, dass sie in genau diesem Film den eigentlichen Gewinner sahen.
BOYHOOD ist eine wahre kleine Perle, die es zu entdecken lohnt. Ein Film, den man man nur einmal in zehn (oder zwölf) Jahren zu sehen bekommt. Wer sich darauf einlässt, wird mit einem Film belohnt, wie es ihn so noch nie zuvor gegeben hat.
Boyhood (USA 2014)
166 Minuten
Drama
Richard Linklater
Richard Linklater
Patricia Arquette, Ethan Hawke, Ellar Coltrane, Lorelei Linklater
Universal Pictures International Germany GmbH