Es ist keine Überraschung, wenn man erfährt, wie der Großvater des Regisseurs von ARMAND heißt: Ingmar Bergman. Halfdan Ullmann Tøndel, Enkel des schwedischen Kinomagiers und der norwegischen Filmikone Liv Ullmann, hat mit dem hintergründigen Schuldrama ARMAND sein Spielfilmdebüt vorgelegt und wurde dafür in Cannes mit der „Caméra d’Or“ ausgezeichnet. Völlig verdient!
Wie schon Bergman in seinen Meisterwerken verknüpft der Norweger Ullmann Tøndel die scheinbar realistische Ebene immer wieder mit surrealistischen, albtraumhaften Elementen, die den Zuschauer ständig in Verlegenheit bringen und zutiefst verstören. Und wie sein Großvater hält er diesen Schwebezustand der Irritation bis zum Schluss durch.
Die Kamera fährt zu Beginn durch die leeren Räume eines Schulgebäudes. Eine Frau sitzt am Steuer eines Autos – mitten in der schönen, einsamen Landschaft Norwegens. Es ist die alleinerziehende Elisabeth, gespielt von Norwegens Superstar Renate Reinsve, vor allem bekannt aus „Der schlimmste Mensch der Welt“. Die junge Mutter ist auf dem Weg zu einem Elternabend, wenige Tage vor Beginn der Schulferien.
Irgendetwas Geheimnisvolles ist zwischen Elisabeths sechsjährigem Sohn Armand und dem gleichaltrigen Jon passiert. Was genau, bleibt (für uns Zuschauer lange) im Unklaren. Doch der Schulleitung scheint der Vorfall so schwerwiegend, dass die Eltern der beiden Jungen einbestellt werden. So trifft die sich weltmännisch und spöttisch gebende Elisabeth auf Jons zornige Eltern, Sarah (Ellen Dorrit Petersen) und Anders (Endre Hellestveit), eine völlig überforderte Lehrerin und einen hilflosen Schulleiter. Und plötzlich geraten alle Beteiligten auf der Suche nach der Wahrheit in einen Strudel aus Eitelkeiten und Eifersüchteleien. Alles endet in einem grandiosen Lachanfall Elisabeths…
Man fühlt sich erinnert an Stücke von Henrik Ibsen oder an den Theaterhit „Der Gott des Gemetzels“ von Yasmina Reza, der später von Roman Polanski verfilmt wurde. Ein Elternabend als bitterböses Duell, bei dem Vorurteile und Animositäten aufeinanderprallen. Und das nur wegen eines Vorfalls, den niemand so recht aussprechen will?
ARMAND ist so ein Film, bei dem jeder Spoiler einer zu viel ist. Wer im Vorfeld weniger über den Film erfahren hat, wird dieses Meisterwerk um so intensiver genießen. Der unvoreingenommene Zuschauer verliert sich zwischen abrupten Sprüngen, verblüffenden Nebenhandlungen (Tanzsequenzen!) und surrealistischen Farbtupfern. Auch der Humor kommt – trotz des ernsten Themas – dabei nicht zu kurz. Ein Fest fürs Kino!
Am Ende bestätigt sich, was wir alle schon zu wissen glaubten: Renate Reinsve ist eine begnadete Schauspielerin.
Armand (Norwegen, Niederlande, Schweden, Deutschland 2024)
118 Minuten
Drama
Halfdan Ullmann Tøndel
Halfdan Ullmann Tøndel
Pål Ulvik Rokseth, FNF
Renate Reinsve, Ellen Dorrit Petersen, Endre Hellestveit, Thea Lambrechts, Vaulen Øystein Røger, Vera Veljovic, Assad Siddique, Patrice Demonière
Pandora Film GmbH & Co. Verleih KG