Der Film der Woche

All Of Us Strangers

08.02.2024

ALL OF US STRANGERS von Andrew Haigh ist nicht einfach nur ein Liebesfilm, nein, dieser Film entwickelt sich zu so viel mehr, wenn man sich als Zuschauer erst einmal die Puzzleteile erarbeitet und zusammengefügt hat.

Adam (Andrew Scott), ein Autor in den Mittvierzigern, lebt in einem neu gebauten, aber noch fast leeren Hochhaus im London der Gegenwart. Er ist ein Waisenkind, alleinstehend und einsam. Als er eines Nachts aufgrund eines Feueralarms seine Wohnung verlassen muss, trifft er auf Harry (Paul Mescal), der kurze Zeit später mit einer Flasche Whisky erneut vor Adams Tür steht. Offenbar sind die beiden Männer die einzigen Bewohner des Hauses. Adam kann sich jedoch nicht überwinden, Harry in seine Wohnung zu lassen und so trennen sich ihre Wege erst einmal wieder.

Während zwischen den beiden im zweiten Anlauf die Funken sprühen, wird Adam von Erinnerungen aus der Vergangenheit heimgesucht und findet sich plötzlich in der Vorstadt wieder, in der er aufgewachsen ist. Im Haus seiner Kindheit scheinen seine Mutter (Claire Foy) und sein Vater (Jamie Bell) noch am Leben zu sein, genau wie an dem Tag, an dem beide vor 30 Jahren durch einen tragischen Unfall plötzlich aus dem Leben gerissen wurden. Für Adam bietet sich nun die einmalige Gelegenheit, seinen Eltern all das zu erzählen, wie beispielsweise von seinem Coming Out, was bislang nicht möglich war…

Das hier ist wahrlich kein einfacher Film, auch wenn es auf den ersten Blick danach aussieht. Zwar wird die Geschichte stringent erzählt, doch spätestens mit der letzten Szene ist klar, das hier nichts so ist, wie es scheint. Keine Angst, ich werde in dieser Kritik nichts davon verraten.

ALL OF US STRANGERS basiert auf dem Roman „Sommer mit Fremden” von Taichi Yamada, der 1987 veröffentlicht und 2007 das erste Mal ins Deutsche übersetzt wurde. Andrew Haigh, der auch das Drehbuch verfasste, verlieh der Geschichte eine zeitgenössische, vor allem aber seine ganz persönliche Note. Für ihn war es wichtiger, den emotionalen Kern der Geschichte herauszuarbeiten, als die klassischen Geisterelemente, die sich in der Erzählung finden. Bereits mit seinen Filmen „Weekend“ und „45 Years“ hatte schließlich Haigh bewiesen, dass er ein unfassbares Talent für fein ausbalancierte Figurenzeichnungen besitzt.

„Was mir an dem Roman gefiel, war seine zentrale Idee: Was wäre, wenn man seine Eltern wiedertrifft, nur dass sie jetzt genauso alt sind wie man selbst? Das schien mir eine sehr emotionale Art und Weise, dem Wesen von Familie auf die Spur zu kommen. Das war mein Ausgangspunkt“, erinnert sich Haigh. Die ganze Last des Films liegt dabei auf den Schultern von Andrew Scott („Pride„, „Sherlock Holmes“), der uns an jeder seiner Emotionen teilhaben lässt, seien sie auch noch so klein. Was Scott hier abliefert, auch im Zusammenspiel mit Paul Mescal („Aftersun„), ist schlichtweg sensationell. Wie sehr seine Figur auch nach 30 Jahren der plötzliche Verlust der Eltern belastet, können wir als Zuschauer zwar eigentlich nur erahnen, durch Scotts Performance geht uns das aber extrem nahe.

Eine Besonderheit stellt übrigens das Haus dar, in dem Adam wieder auf seine Eltern trifft. Hierbei handelt es sich nicht um irgendeine Immobilie, sondern tatsächlich um das Elternhaus des Regisseurs Andrew Haigh. Ganze 40 Jahre ist er nicht dort gewesen, seit er mit zehn Jahren weggezogen war. „Der Mann, der jetzt in dem Haus wohnt, hatte es seit 30 Jahren nicht mehr dekoriert. Vieles im Inneren ist immer noch so wie früher. Es war, als würde man in eine halb erinnerte Erinnerung eintauchen. Es war ein zutiefst merkwürdiges Gefühl“, so Haigh. Für die Schauspieler bedeutete der dortige Dreh vor allem eines: Sie hatten einen großen Respekt davor, was es ihm bedeutet.

Vielleicht sind es genau diese Dinge, die aus ALL OF US STRANGERS so viel mehr machen, als nur einen Film über Liebe, Einsamkeit und das Abschließen mit offenen Dingen. Haigh begibt sich hier mit den Zuschauern zusammen auf eine Suche nach etwas Tiefgründigem. „Little things I should have said or done, I never took the time“, singen die Pet Shop Boys in einem ihrer größten Hits „Always on my mind“ (ein Elvis-Cover, selbstverständlich), der auch im Film zu hören ist. Und genau darum geht es: all die Dinge, die wir gerade nicht getan haben, weil wir vielleicht zu ängstlich waren oder uns nicht aus unserer Haut getraut haben – die wir aber irgendwann bereuen.

ALL OF US STRANGERS ist ein Film, der noch lange nachhallt und von dem wir uns im Anschluss erst einmal erholen müssen. Denn nichts ist stärker, als die Kraft der Liebe – kein Wunder also, dass Haigh einen der wundervollsten Songs der Musikgeschichte als zentralen Titel gewählt hat: „The Power of Love“ von Frankie Goes to Hollywood. Besser kann ein Film nicht sein.

Trailer

ab12

Originaltitel

All Of Us Strangers (USA 2023)

Länge

105 Minuten

Genre

Drama

Regie

Andrew Haigh

Drehbuch

Andrew Haigh

Darsteller

Andrew Scott, Paul Mescal, Jamie Bell, Claire Foy

Verleih

Walt Disney Studios Motion Pictures Germany GmbH

Weitere Neustarts am 08.02.2024