Der Film der Woche

Poor Things

18.01.2024

Man stelle sich vor: Irgendein durchgeknallter Regisseur käme auf die abwegige Idee, den Frankenstein-Mythos mit der Geschichte um „Alice im Wunderland“ zu verbinden und das alles im Stil der überladenen Opulenz eines Tim-Burton-Fantasy-Films zu inszenieren. Und genau das hat der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos mit POOR THINGS geschafft.

Der verdiente Lohn: Erst gab es den Goldenen Löwen beim Filmfestival von Venedig, dann jetzt den Golden Globe. Und der Oscar wartet schon! POOR THINGS ist nicht nur ein sensationelles Meisterwerk – dieser cineastische Meilenstein ist ein Weltwunder! Wir schreiben zwar erst den Januar 2024, doch was kann in diesem Jahr danach noch kommen? Diese unglaublichen 141 (!) Minuten bieten alles, was wir am Kino so lieben.

Das viktorianische London gegen Ende des 19. Jahrhunderts: Der unorthodoxe Wissenschaftler und Anatomie-Professor Godwin Baxter (Willem Dafoe), dessen narbenübersätes und zusammengeflicktes Gesicht so aussieht wie das von Boris Karloff im Horror-Klassiker „Frankenstein“, liebt es, seine Studenten zu provozieren, indem er auf bizarre Weise an diversen Leichen herum schnippelt. Er bittet seinen Assistenten Max Mc Candless (Ramy Youssef), sich um seine Ziehtochter Bella Baxter (Emma Stone) zu kümmern, die offenbar das Gehirn eines Kleinkindes hat. Max’ erster Kommentar: „So schön, und doch so behindert.“ Bella kann ihre Bewegungen nicht koordinieren, redet ständig wirres Zeug und ist nicht in der Lage, ihre Körperausscheidungen zu kontrollieren. Angeblich ist sie in der Lage, jeden Tag 15 neue Wörter zu lernen. Was ist ihr Geheimnis? In der ersten Szene des Films hatten wir eine Frau im blauen Mantel gesehen, die sich von einer Themse-Brücke stürzt…

Was folgt, ist eine von Lanthimos konsequent in Schwarzweiß und mit extremer Fischaugen-Optik inszenierte Sequenz. Godwin, den Bella liebevoll nur „God“ nennt, bittet Max, sich mit seiner Ziehtochter zu verloben. Doch die lässt sich von Godwins windigem Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) verführen und flieht mit ihm nach Lissabon, wo merkwürdige Luftschiffe den Himmel bevölkern. Bella findet Gefallen an den einheimischen Vanille-Törtchen, die wir als „Natas“ kennen – und am Sex, den sie mit Duncan leidenschaftlich austobt. (Diese drastischen Szenen spielt Emma Stone mit hemmungsloser Offenheit. Bravo!)

Nach durchzechter Nacht wacht Bella auf einem schrillen Kreuzfahrtschiff, das von Jules Verne kreiert sein könnte, auf, wo sie die Lebedame Martha von Kurtzroc (Hanna Schygulla) kennenlernt, die ihr die Lektüre von Goethe empfiehlt. In Alexandria gibt Bella das von Duncan mühsam erworbene Glücksspiel-Geld den Armen. Und so landet das Paar völlig mittellos in Paris, wo Bella von der Puffmutter Swiney (Kathryn Hunter) umsorgt wird. So lernt die naive junge Frau den käuflichen Sex kennen – mit all seinen Schattenseiten. (Das alles wirkt wie aus einem Roman von Balzac entsprungen.) Eine Leidensgenossin vermittelt Bella bei einer Demo, dass auch unterdrückte Frauen ihre Rechte haben. Zurück in London trifft Bella auf den sterbenden Godwin, der inzwischen mit Felicity (Margaret Qualley) ein neues geheimnisvolles Wesen an seiner Seite hat.

Was in diesen grandiosen 141 Minuten passiert, reicht eigentlich für drei Filme. Ständig werden wir Zuschauer in dieser überbordenden Handlung auch visuell hin und her gerissen: Auf was müssen wir in diesem nicht enden wollenden Albtraum achten? Was läuft nur am Rande mit? Was ist saukomisch, was ist unendlich traurig? Und das Ende ist so makaber, dass uns die Worte fehlen…

Mit POOR THINGS hat Yorgos Lanthimos, den wie spätestens seit „The Lobster“, „The Killing of a Sacred Deer“ und „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“ lieben, sein Meisterstück abgeliefert – basierend auf dem gleichnamigen Roman von Alasdair Gray. Doch die literarischen Vorlagen liegen weit zurück: Wir denken an Mary Shelley, Lewis Carroll, Charles Dickens, Honoré de Balzac und Jules Verne. Was will man mehr?

Mit POOR THINGS hat das europäische Kino bewiesen, welche faszinierende Kraft in diesem Medium liegt. Und das Werk ist auch eine Verbeugung vor den Filmpionieren der vorletzten Jahrhundertwende. Wer denkt hier nicht an Georges Méliès und seine schrägen Ideen? Zur Beruhigung für alle Zweifler: Diesen kulturellen Ballast muss man nicht spüren. POOR THINGS funktioniert auch ohne Vorwissen – als eine geniale Mischung aus schwarzem Humor, skurrilem Horror und durchgeknallter Komödie. Zu guter Letzt: Hoffen wir, dass Emma Stone für ihre überragende Leistung ihren zweiten verdienten Oscar bekommt.

Mein persönlicher Tipp: Zweimal reingehen! Oder dreimal?

Trailer

Im Rahmen der Berichterstattung
FSK noch unbekannt

Originaltitel

Poor Things (USA 2023)

Länge

141 Minuten

Genre

Drama / Komödie / Fantasy

Regie

Yorgos Lanthimos

Drehbuch

Tony McNamara, basierend auf dem Roman von Alasdair Gray

Darsteller

Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Jerrod Carmichael, Hanna Schygulla, Christopher Abbot, Suzy Bemba, Kathryn Hunter, Vicki Pepperdine, Margaret Qualley

Verleih

Walt Disney Studios Motion Pictures Germany GmbH

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