Ein Skelett erzählt seine Geschichte: Bizarrer kann ein Biopic nicht beginnen. In seinem ersten deutschsprachigen Film DAS VERSCHWINDEN DES JOSEF MENGELE taucht der russische Regisseur Kirill Serebrennikov ein in die unscheinbare, armselige Welt eines Monsters, des sogenannten „Todesengels von Auschwitz“. Von Sympathisanten – sprich: Alt- und Neonazis – sowie seiner Familie unterstützt, kann sich der ehemalige KZ-Lagerarzt Josef Mengele unter falschem Namen in Südamerika verstecken – bis zu seinem Tod im Jahr 1979.
Ein Hörsaal der medizinischen Fakultät an einer brasilianischen Universität. Stolz präsentiert der Professor seinen Studierenden ein der Uni gespendetes Skelett – das von Josef Mengele. Denn nur mit Hilfe der Wissenschaft konnte eine exhumierte Leiche als die des einstigen „Todesengels“ eindeutig identifiziert werden. Und der Professor beginnt zu erzählen…
1956: Der gehetzt wirkende Josef Mengele (August Diehl) streift unruhig durch die Straßen von Buenos Aires. In jedem Passanten sieht einen Feind. Er ist auf dem Weg in die Bundesrepublik Deutschland, um seine Familie wahrscheinlich zum letzten Mal zu sehen – immerhin wird seit Kriegsende weltweit nach ihm gefahndet, obwohl er angeblich in den letzten Kriegstagen gefallen sein soll. Zu Hause in Günzburg wird er von seinem Vater (Burghart Klaußner), einem erfolgreichen Industriellen, jovial empfangen: „Hier bist du sicher, hier sucht dich niemand.“ Und mit seinen unverbesserlichen rechten Parolen wird Josef im Familienkreis herzlich aufgenommen.
Zurück in Argentinien zählt Josef Mengele mit seiner zweiten Frau Martha (Friederike Becht) zur feinen Gesellschaft und wird stillschweigend von der Regierung geduldet. (Man fühlt sich sofort in den Hitchcock-Thriller „Notorious“ („Berüchtigt“) erinnert, in dem Cary Grant als US-Agent Altnazis in Südamerika ausspioniert.) Als die Luft zu dünn wird, flieht Josef nach Paraguay und später – nach Adolf Eichmanns Entführung durch den Mossad – nach Brasilien. Jahrelang lebt er auf einer Schaffarm und wird nachts von der Bauersfrau beglückt.
Als alter Mann lebt er völlig verarmt in einer Bruchbude in São Paulo, wo ihn sein Sohn Rolf (Max Bretschneider) besucht. Der ist bei seiner Mutter Irene (Dana Herfurth) aufgewachsen und will endlich Antworten. Was ist damals genau passiert und was ist dran an den Gerüchten über den „Todesengel“?
Was folgt, ist ein brutaler Schnitt. Der bis hierhin in kaltem Schwarzweiß wie ein Film noir inszenierte Streifen wird plötzlich farbig. (Nachgestellte) Amateuraufnahmen zeigen den Alltag in und um Auschwitz. Wir sehen Josef und Irene verliebt auf einer Wiese liegen und im See baden. (Genauso beginnt das Meisterwerk „The Zone of Interest“ von Jonathan Glazer aus dem Jahr 2023 über den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß.)
Und dann kommen die schrecklichen, kaum zu ertragenden Bilder: die Ankunft der Juden auf der Rampe, die von Mengele geleitete Auslese, die medizinischen Experimente mit lebendigen Menschen – da werden Buckel aufgeschnitten, Zwillinge gefoltert und Kleinwüchsige hämisch vorgeführt. Man möchte nur noch weggucken!
Rolf erschaudert vor seinem uneinsichtigen Vater, der nichts bereut – und reist verzweifelt ab. 1979 ertrinkt Josef im Atlantik und wird unter falschem Namen begraben. Erst sechs Jahre später wird die Leiche als die Josef Mengeles identifiziert.
Der für seine Avantgarde-Elemente bekannte Kirill Serebrennikov inszeniert die letzten Monate Mengeles wir eine Phantasmagorie, wie einen Drogenrausch. Plötzlich sind wir mitten drin in Josefs Kopf. Und August Diehl spielt dieses menschliche Monster mit eiskalter und brutaler Wut – dass es einem das Blut in den Adern gefriert. Was für eine Schauspielerleistung!
DAS VERSCHWINDEN DES JOSEF MENGELE ist ein böser, sperriger Film. Und ein sehr wichtiger!
The Disappearance / La disparition de Josef Mengele (Deutschland 2024)
135 Minuten
Drama / Biographie / Historie
Kirill Serebrennikov
Kirill Serebrennikov
Vladislav Opelyants
August Diehl, Max Bretschneider, David Ruland, Friederike Becht, Mirco Kreibich, Dana Herfurth, Karoly Hajdyk, Falk Rockstroh, Annamaria Lang, Tilo Werner, Burghart Klaußner
DCM Film Distribution GmbH