Der britische Regisseur Jonathan Glazer, vor allem bekannt wegen seines Science-Fiction-Thrillers „Under the Skin – Tödliche Verführung“ mit Scarlett Johansson in der Hauptrolle, fordert mit seinem neuen Film THE ZONE OF INTEREST uns alle heraus. Hier geht ein begnadeter Regisseur an seine und unsere Grenzen. Dieses spröde und hermetische Meisterwerk ist eine Zumutung! Und das ist diesmal positiv gemeint!
Karger kann ein Film nicht beginnen: Schwarzblende, von moderner Chormusik untermalt. Dann öffnet sich das Bild, und wir sehen eine Sommeridylle. Mehrere Familien sonnen sich an einem malerischen See, einige baden. Viel zu erkennen ist nicht – die Kamera bleibt auf Distanz. (Im ganzen Film gibt es keine einzige menschliche Großaufnahme.) Am Ende eines langen Tages fahren die Personen in altmodischen Autos nach Hause. Der Mann, der offenbar das Sagen hat, lebt in einer feudalen Villa mit großem Garten und Swimmingpool. Zu dumm, dass im Hintergrund eine hohe Mauer mit Stacheldraht-Aufsatz und ein Wachtturm zu sehen sind. Das Hausherr heißt Rudolf Höß (Christian Friedel) und ist Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz. Diese Erkenntnis ist für jeden Zuschauer erst einmal ein Tiefschlag!
Wie wird aus einem deutschen Biedermann einer der größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts? Diese Frage ließ den britischen Autor Martin Amis nicht los und schrieb den Roman „The Zone of Interest“. Der Titel ist eine direkte Übersetzung aus dem Deutschen: Die SS benutzte den Begriff „Interessengebiet“ als zynischen Euphemismus für das Areal eines Konzentrationslagers. Und diesen Roman hat Jonathan Glazer nach seinem eigenen Drehbuch verfilmt. Gedreht wurde ausschließlich in Polen – und komplett auf Deutsch! Deshalb ist dieser Film eines Briten auch für den sogenannten Auslands-Oscar nominiert. Früher hieß er Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film. Drücken wir die Daumen!
Während hinter den Mauern täglich tausende Menschen vergast und erschossen werden, leben Rudolf und sein Ehefrau Hedwig (Sandra Hüller) mit ihren vielen Kindern ihre spießige Bürgerlichkeit aus. Die Gespräche drehen sich hauptsächlich um Kohlrabi, Fliederblüten, Ausritte und die Rutsche am Pool für die Kleinen. Abends liest Rudolf Höß seinen Kindern Märchen vor, die Glazer als surrealistische, monochrome Albträume wie irritierende Verfremdungseffekte inszeniert. Hedwigs Mutter reist aus der Heimat an – ist aber sofort wieder weg, als sie die Geheimnisse hinter den Mauern erfährt. Ihr Abschiedsbrief wird kurzerhand im Ofen verbrannt. Das Ehepaar Höß duldet keinen Risse in ihrer Scheinidylle.
Doch dann wird der Kommandant nach Berlin zitiert, wo er die Oberaufsicht über alle KL (die alte Abkürzung für „KZ“) erhalten soll. Er ist der beste Mann, um das Problem mit den „Ladungen“, die per Zug ankommen, zu lösen. Höß soll Auschwitz aufgeben – und Hedwig hat Angst, ihren geliebten Garten zu verlieren. Hier, kurz vor Schluss, gönnt uns Glazer einen unerwarteten Schlenker. Im Treppenhaus seines Hotels kotzt Rudolf völlig überraschend auf den Fußboden. Hat dieser Mensch etwa doch Gefühle?
Jetzt folgt der wohl brutalste Schnitt des Kinojahres: Wir sehen polnische Reinigungskräfte, die im heutigen Auschwitz-Museum Gaskammer, Krematorium und Ausstellungsräume mit Besen und Staubsauger säubern. Nur in dieser kurzen Szene können wir uns das Grauen vorstellen. Mehr zeigt Glazer nicht. Der Schock für uns Zuschauer kann nicht größer sein!
Hannah Arendt prägte den Begriff von der „Banalität des Bösen“. Und genau diese Banalität zeigt uns Jonathan Glazer in seinem sensationellen Film THE ZONE OF INTEREST – emotionslos, erschreckend nüchtern und völlig distanziert. Als wäre es ein Film von Robert Bresson. An seiner Seite hatte der Regisseur zwei überragende deutsche Schauspieler: Sandra Hüller (oscar-nominiert für „Anatomie eines Falls“) und Christian Friedel („Das weiße Band“), die wir in ihrer bravourös gespielten Dürftigkeit meist nur im Hintergrund erleben. Die einzigen Großaufnahmen gönnt Glazer Blumen und Sträuchern. Welch eine Idee!
1977 kam ein deutscher Film in unsere Kinos, den damals kaum jemand sehen wollte: „Aus einem deutschen Leben“ von Theodor Kotulla. Das Thema: das banale Leben des Auschwitz-Kommandanten. In der Hauptrolle: Götz George! Hoffen wir, dass THE ZONE OF INTEREST mehr Zuschauer bekommt. Dieses bitterböse und sehr traurige cineastische Wunder ist ein Muss! Für alle!
The Zone of Interest (USA / Großbritannien / Polen 2024)
105 Minuten
Drama / Historie
Jonathan Glazer
Jonathan Glazer
Christian Friedel, Sandra Hüller, Johann Karthaus, Luis Noah Witte, Nele Ahrensmeier, Lilli Falk, Anastazja Drobniak, Cecylia Pękala, Julia Polaczek, Kalman Wilson, Imogen Kogge, Medusa Knop, Zuzanna Kobiela, Martyna Poznańska, Stephanie Petrowitz, Max Beck, Andrey Isaev
Leonine Distribution GmbH