Wie wird aus einer jungen Frau ein gnadenloses Monster? Diese Frage stellt die Autorin und Regisseurin Mareike Engelhardt in ihrem Film RABIA – DER VERLORENE TRAUM…
Die 19-jährige Französin Jessica (Megan Northam) und ihre beste Freundin Laïla (Natacha Krief) sind voller Vorfreude. In wenigen Stunden geht ihr Flieger, doch die beiden träumen nicht von Urlaub – sie wollen sich dem Islamischen Staat in Syrien anschließen. In Raqqa angekommen folgt dann der große Schock: Nachdem ihnen Pässe, Handys, Schmuck und Kleidung abgenommen worden sind, werden sie in ein sogenanntes „Madafa“ geführt, ein Haus für zukünftige Frauen von IS-Kämpfern. Dort müssen sie sich strengen Regeln unterwerfen und die angeblichen Siege der Kämpfer huldigen. Doch als der Mann, dem Jessica und Laïla als Ehefrauen versprochen waren, im Kampf fällt, ändert sich ihr Schicksal abrupt. Die charismatische Madame (Lubna Azabal), die das Haus mit einer eisernen Strenge führt, hat Jessica, die inzwischen den Namen Rabia trägt, als mögliche Nachfolgerin ins Visier genommen. Mit zunehmendem Druck muss sich Rabia entscheiden, welches Leben sie führen will…
Mit ihrem Spielfilm-Debüt als Regisseurin hat sich Mareike Engelhardt keine einfache Kost vorgenommen. Doch RABIA – DER VERLORENE TRAUM überzeugt auf ganzer Linie, denn der Blick in diese Frauenhäuser des Islamischen Staats sind nicht leicht zu ertragen. Doch mit jeder Szene, jedem Blick, jedem noch so kleinen Detail wird klar, dass Engelhardt unfassbar viel Recherche in diesen Film gesteckt hat. Zwar gibt es aus diesen Madafa-Frauenhäusern keine Bilder, weil sie noch nie ein Außenstehender von innen gesehen hat, doch Engelhardt hat zu dem Thema unzählige Interviews mit IS-Rückkehrerinnen geführt. Ihr Fokus lag dabei auf der Frage, was vor allem junge Frauen – die jüngste, mit der Engelhardt sprach, war sogar er 14 Jahre alt! – dazu veranlasst, ihr westliches Leben aufzugeben und in ein Kriegsland zu ziehen. Und wie sie dann durch eine Kette von Ereignissen vom Opfer zur Täterin werden.
Trotzdem kümmert sich Engelhardt in RABIA – DER VERLORENE TRAUM nicht um die Beweggründe der jungen Frauen. Nein, sie katapultiert uns mit einem minimalen Vorlauf direkt in die erschütternde Situation des Madafa-Frauenhauses. Das ist äußerst clever, denn so versetzt sie uns Zuschauer in dieselbe Situation, wie ihre Protagonistinnen und stellt uns unweigerlich die Frage, wie wir uns selbst in einer solchen Situation verhalten hätten.
Engelhardt erzählt die Ereignisse in Syrien mit einer unglaublichen Gelassenheit, wobei die Blicke der jungen Frauen mehr sagen, als jedes gesprochene Wort. Doch warum brechen die Menschen dort nicht aus aus einem System, dass ihnen jegliche Menschlichkeit raubt? Und was bringt sie dazu, sich letztendlich auf die Seite des Bösen zu stellen? Diese Fragen kreisten mir immer wieder durch den Kopf während der 95 Minuten Laufzeit des Films. Die Antworten müssen wir uns jedoch selbst suchen, so einfach macht es uns die Regisseurin nicht. Doch sie liefert genug Argumente für ein tiefgreifendes Gespräch nach dem Film – und das ist so viel mehr wert, als wenn einem alles auf dem Silbertablett serviert wird.
Mareike Engelhardt ist mit RABIA – DER VERLORENE TRAUM ein eindrucksvoller Film gelungen, der zutiefst erschüttert, uns aber die Basis für eine Auseinandersetzung mit dem Thema gibt. Das hat im Kino leider Seltenheitswert. Daher ziehe ich meinen Hut vor diesem Film!
Rabia - Der verlorene Traum (Frankreich / Deutschland / Belgien 2024)
95 Minuten
Drama / Thriller
Mareike Engelhardt
Mareike Engelhardt, Samuel Doux
Agnès Godard,
Megan Northam, Lubna Azabal, Natacha Krief, Klara Wördemann, Maria Wördemann, Lena Lauzemis, Andranic Manet, Lena Urzendowsky
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