Dieser Film ist so verschroben, dass er manchmal wie eine bizarre Versuchsanordnung wirkt. Das sollte man wissen, bevor man sich traut, DIE LINIE im Kino anzuschauen. Regisseurin ist die in Frankreich geborene Schweizerin Ursula Meier, die inzwischen in Belgien lebt – welch ein Lebenslauf! Nach „Home“ (2008) mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle und „Winterdieb“ (2012) mit Lea Seydoux ist DIE LINIE erst Meiers dritter Spielfilm. Sie macht sich rar!
Der Film spielt in einer Kleinstadt irgendwo im französisch-sprachigen Teil der Alpen. Wie aus dem Nichts geraten die 35-jährige Musikerin Margaret (Stéphanie Blanchoud) und ihre Mutter, die ehemalige Konzertpianistin Christina (Valeria Bruni Tedeschi), in einen heftigen Streit, bei dem Margaret scheinbar grundlos zuschlägt. Beim Sturz landet ihre Mutter mit dem Kopf auf der Klaviertastatur und muss ins Krankenhaus. Dort wird ein massiver Hörverlust diagnostiziert. Das Gericht verdonnert Margaret zu einer merkwürdigen Strafe: Sie darf dem Haus ihrer Mutter drei Monate lang nicht näher als 100 Meter kommen – sonst würde sie im Knast landen.
Margaret, die im gleichen Ort mit ihrem Musikerkollegen Julien (Benjamin Biolay) zusammenlebt, möchte aber den Kontakt mit ihrer jüngsten Schwester Marion (Elli Spagnolo) nicht verlieren, die von ihr Gitarrenunterricht erhält. Die aufgeweckte Kleine kommt auf die geniale Idee, mit blauer Farbe einen riesigen Kreis rund um das Haus zu malen – natürlich im Abstand von genau 100 Metern. Und so treffen sich die Schwestern jeden Tag an der Linie – auch bei schlechtem Wetter. Gelegentlich stößt die hochschwangere dritte Schwester Louise (India Hair) zu ihnen.
Wieder zu Hause muss sich Christina mit der ungewöhnlichen Situation abfinden. Diese Hassliebe auf Distanz ist für Mutter und Tochter kaum zu ertragen – Christina reagiert mit kindischen Ticks und hilfloser Selbstgerechtigkeit, Margaret mit schonungsloser Offenheit. Und Marion wird dabei mittendrin aufgerieben. (Für diese sensationelle Leistung wurde Elli Spagnolo übrigens mit dem Schweizer Filmpreis für die beste Nebendarstellerin ausgezeichnet.)
Ursula Meier, die gemeinsam mit Stéphanie Blanchoud auch das Drehbuch schrieb, vermeidet ganz bewusst, Margarets offensichtliche psychische Probleme näher zu beschreiben. Man könnte sie als Borderline-Persönlichkeitsstörung bezeichnen – mit dem Effekt: Die „Borderline“ ist in diesem besonderen Fall sehr konkret und sehr bildlich…
Auch ihren dritten Film lässt Ursula Meier in den Alpen spielen. „Winterdieb“ über eine junge Frau (Lea Seydoux), die sich als die Schwester ihres Sohnes ausgibt und ständig mitansehen muss, wie er Skier und Skistiefel klaut, war damals für mich einer der besten Filme des Jahrzehnts. DIE LINIE ist vor allem ein Film für drei grandiose Schauspielerinnen: Neben dem Jungstar Elli Spagnolo glänzen Stéphanie Blanchoud – von Hause aus Autorin und Sängerin – und Valerie Bruni Tedeschi – übrigens die Schwägerin von Frankreichs Ex-Staatspräsident Nicolas Sarkozy – in unglaublich schwierigen Rollen. Ein intensives Kammerspiel über die Familie als Kampfschauplatz – fast wie bei Ingmar Bergman!
La Ligne (Schweiz / Frankreich / Belgien 2022)
103 Minuten
Drama
Ursula Meier
Stéphanie Blanchoud, Ursula Meier, Antoine Jaccoud, unter Mitwirkung von Robin Campillo & Nathalie Najem
Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Elli Spagnolo, Inida Hair, Dali Benssalah, Benjamin Biolaym Eric Ruf, Thomas Wiessel
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