Der Film der Woche

Die Aussprache

09.02.2023

Auch in DIE AUSSPRACHE zeigt die kanadische Regisseurin Sarah Polley wieder, dass sie ein unfassbares Gespür für hochsensible und zutiefst menschliche Geschichten hat.

Die Frauen einer abgeschiedenen Religionsgemeinschaft teilen normalerweise nichts Intimes miteinander. Doch als sich die gewaltsamen Übergriffe der Männer mehren, hadern sie mehr und mehr mit ihrer Religion. In einem Versuch, ihren Glauben mit der aktuellen Situation in Einklang zu bringen, diskutieren die Frauen (Frances McDormand, Rooney Mara, Claire Foy, Jessie Buckley, Judith Ivey, Sheila McCarthy, Michelle McLeod, Kate Hallet, Liv McNeil) in einer Scheune über die Zukunft. Sollen sie nichts tun, bleiben und kämpfen, oder sollen sie die Gemeinschaft verlassen, und sich irgendwo ein neues Leben aufbauen?

Die Frage, die Sarah Polley hier aufwirft, scheint auf den ersten Blick sehr weltfremd zu sein. Da werden die Frauen einer Religionsgemeinschaft Nacht für Nacht unter Drogen gesetzt und vergewaltigt, was ihnen von den Männern als eine Art göttliche Intervention verkauft wird. Erst als sie einen der Angreifer dingfest machen, wird ihnen klar, was hier tatsächlich vor sich geht. Doch anstatt die Gemeinschaft umgehend zu verlassen, diskutieren sie darüber, ob sie sich das überhaupt erlauben können – schließlich würde ihnen damit ihr Platz im ewigen Himmelreich verwehrt bleiben. Der Film spielt im Jahre 2010, also vor nicht allzu langer Zeit, da möchte man den Menschen doch eine gewisse Aufklärung zuschreiben.

Sarah Polley unterlässt es vollends, dem Zuschauer zu sagen, wo genau die Geschichte spielt. Lediglich der Begriff Südamerika und das Jahr 2010 fallen einmal kurz. Dass es sich hierbei um eine Kolonie der Mennoniten in Bolivien handelt, wo 2011 sieben Männer zu 25 Jahren Haft verurteilt worden sind, weil sie mehr als 100 Frauen und Kinder vergewaltigt haben, ist für die Story aber auch nicht wirklich relevant. Genauso, wie Polley diese Männer nicht zeigt, verschweigt sie uns die Vorgeschichte. Sie lässt uns ausschließlich an der Welt der Frauen teilhaben. Der Schrecken dahinter wird uns lediglich durch Wunden, blaue Flecken und den Erzählungen der Frauen bewusst. Das ist ein verdammt starker Schachzug der Regisseurin.

Natürlich kann man sich an dieser Stelle aufregen, dass man doch gefälligst alle Fakten aufzuzählen hat, wenn man eine wahre Geschichte erzählt – oder zumindest eine Geschichte, die auf wahren Tatsachen beruht. Aber, und da wiederhole ich mich, ist das für die Aussage des Films schlichtweg nicht relevant. Denn es geht hier nicht um die getreue Darstellung dieser einen Geschichte – vielmehr steht DIE AUSSPRACHE in meinen Augen als Metapher für das Leid, das Frauen überall auf der Welt ertragen müssen. Sei es in dieser spezifischen Religionsgemeinschaft, unter irgendwelchen totalitären Regimes in der Welt oder durch toxische Partnerschaften. Denn eines haben all diese Situationen gemein: Die Frauen sehen oftmals aus unterschiedlichen Gründen nicht, warum es eigentlich nur die Entscheidung geben kann, den Ort und das Geschehen umgehend zu verlassen.

Auch die Religion spielt hier nur eine untergeordnete Rolle. In DIE AUSSPRACHE sind die Frauen so sehr indoktriniert, ihren Platz im ewigen Himmelreich nicht zu verlieren, dass sie diese für sie vermeintliche Realität über alles andere stellen. Ähnlich geht es oftmals auch in toxischen Beziehungen darum, dass sich das Opfer ein Leben ohne ihren Peiniger nicht vorstellen kann, obwohl es eigentlich klar sein müsste, das die Zukunft ausschließlich im Ende der Beziehung liegen kann. Das macht das Thema aus dem Film so universell und zeitlos.

Ich bin immer raus, wenn besonders US-Filme die Religionskeule auspacken. Hin und wieder schwappen solche christlichen Filme aus den Staaten zu uns herüber, und wirklich jedes Mal macht mich das persönlich verdammt ärgerlich. Aber hier ist das zum Glück nicht der Fall. Der Glaube dieser Frauen wird von Polley überhaupt nicht als die Lösung für alles propagiert – im Gegenteil. Sie nutzt den Glauben ausschließlich als Metapher für das Verschließen vor der Wahrheit, weil die Frauen es hier nie anders gelernt haben.

Sarah Polley hatte außerdem mit ihrem Film nie die Absicht, alle Männer als bösartig darzustellen. Dafür steht Ben Whishaw als Lehrer der Gemeinschaft auf der Seite der Frauen. Als einziger männlicher Vertreter zeigt er Verständnis für ihre Lage und offenbart sein mitfühlendes Wesen. Würde es mehr von seiner Sorte geben, wäre diese Welt ein besserer Ort.

Mit DIE AUSSPRACHE gelingt es Sarah Polley, eine zutiefst menschliche Geschichte zu erzählen, so wie sie es u.a. bereits in ihren bisherigen Filmen „An ihrer Seite“ (2006) oder „Take This Waltz“ (2011) getan hat. Man kann diese Regisseurin dafür nur bewundern!

Trailer

ab12

Originaltitel

Women Talking (USA 2023)

Länge

105 Minuten

Genre

Drama

Regie

Sarah Polley

Drehbuch

Sarah Polley, nach der Buchvorlage von Miriam Toews

Darsteller

Rooney Mara, Claire Foy, Jessie Buckley, Judith Ivey, Sheila McCarthy, Michelle McLeod, Kate Hallet, Liv McNeil, August Winter, Ben Whishaw, Frances McDormand

Verleih

Universal Pictures International Germany GmbH

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