Der Film der Woche

Corsage

07.07.2022

Nicht schon wieder ein dröges Historiendrama – ausgerechnet über „Sissi“! Was auf den ersten Blick wie ein entbehrlicher Langweiler aussieht, ist in Wahrheit eine tiefgründige Reflexion über Feminismus im 19. Jahrhundert, über Mode und das Idealbild der Frau in der Öffentlichkeit. Der österreichischen Regisseurin Marie Kreutzer ist mit CORSAGE das grandiose Porträt einer berühmten Frau gelungen, die zwischen Repräsentationspflichten und Privatleben aufgerieben wurde. Diese Person war Elisabeth, Kaiserin von Österreich-Ungarn (1837-1898), von ihren Freunden „Sisi“ genannt. Wir Deutschen kennen sie seit der Ernst-Marischka-Trilogie der 1950er-Jahre nur als „Sissi“, kongenial verkörpert von der damals blutjungen Romy Schneider.

Heiligabend, 1877: Der Wiener Hofstaat feiert den 40. Geburtstag der Kaiserin Elisabeth (Vicky Krieps). Sie weiß: In den Augen der Öffentlichkeit gilt man mit 40 Jahren schon als alte Frau – und so kämpft sie jeden Tag aufs Neue um ihr jugendliches Image. Jeden Morgen fordert sie ihre Bediensteten auf, ihr Korsett (siehe Titel!) noch enger zu schnüren und ihren Taillenumfang präzise zu messen. Ihr Mann, Kaiser Franz Joseph (Florian Teichtmeister), hatte ihr verboten, sich in die Politik einzumischen: Zu repräsentieren und gut auszusehen, sei ihre einzige Aufgabe.

Doch Elisabeth weiß sich zu wehren – die Erziehung ihrer Kinder reicht ihr nicht mehr. Sie reist zu ihrer Schwester nach England, wo sie mit dem Jagdreiter Bay Middleton (Colin Morgan) wilde Ausflüge unternimmt. Sie flirtet mit ihren Cousin Ludwig II. (Manuel Rubey), dem König von Bayern, den sie am Starnberger See besucht. Als sie nach einem (vermeintlichen) Selbstmordversuch (sie war aus dem Fenster gesprungen) wieder bei Ludwig ist, spricht er den denkwürdigen Satz: „Ich verbiete dir, dich in meinem See zu ertränken – dies ist MEIN See.“ (Später wird er selbst darin enden.) Welch eine tolle Szene!

Als das Eheleben langsam einschläft, besorgt sie ihrem Mann eine junge Geliebte. Ihren Hofmaler fordert sie auf, beim nächsten Porträt doch bitte schön eines ihrer Jugendbildnisse zu benutzen – Image ist eben alles. Und gelegentlich muss eine ihrer Hofdamen sie bei öffentlichen Auftritten als Doppelgängerin vertreten – natürlich tief verschleiert.

Wir Zuschauer bemerken nach dem scheinbar drögen Beginn ziemlich schnell, dass die Regisseurin uns in eine Falle gelockt hat. Das ist eben kein steriler Geschichtsunterricht, sondern modernes Kino. Denn langsam schleichen sich Irritationen ein: Wo kommen die englischen Popsongs in der Tonspur her? Warum diese riesigen leeren Räume in den so unpersönlichen, kalten Schlössern?

Gemeinsam mit ihrer phänomenalen Kamerafrau Judith Kaufmann hat Marie Kreutzer einen surrealistischen Subtext erschaffen, den wir erst allmählich begreifen. Judith Kaufmann hat ein unglaubliches Gespür dafür, wie man Leere und Verfall inszeniert. Schon 1877 neigt sich die k.u.k.-Monarchie dem Ende entgegen – und die Kamera zeigt genau das: Die Räume mit den extrem hohen Decken sind kaum möbliert, der Putz fällt von den Wänden, das Fechtduell zwischen Elisabeth und Franz Joseph ist nur noch bloße Attitüde. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs dauert es zwar noch 35 Jahre, doch der Anfang ist gemacht. Und mittendrin eine Frau, die ihren Weg sucht. Nanu: Als bei einer Gartenparty die Sängerin an der Harfe den Rolling-Stones-Song „As Tears Go By“ anstimmt, merkt wohl jeder: Marie Kreutzer arbeitet auf mehreren Ebenen.

Die Luxemburgerin Vicky Krieps spielte bereits in Paul Thomas Andersons „Der seidene Faden“ eine internationale Hauptrolle. Hier spielt sie sich viersprachig (!: deutsch, ungarisch, englisch, französisch) furchtlos und radikal durch eine vertrackte Rolle – und muss dabei den Vergleich mit Romy Schneider nicht scheuen. (Schließlich hatte diese in Viscontis „Ludwig II.“ Jahre später ihre Figur noch einmal aufgegriffen). Vicky Krieps zeigt in ihrer denkwürdigen Leistung alle Nuancen zwischen Selbstzweifel und Trotz minutiös auf. Immerhin: Das europäische Kino hat die Bedeutung dieser Schauspielerin längst erkannt.

P.S. Eine persönliche Fußnote: Auch ich hatte zu Beginn von CORSAGE meine Probleme. „Nicht schon wieder“ war mein erster Gedanke (siehe oben!). Die Erkenntnis kam spät – aber dann umso gewaltiger. Bravo!

Trailer

ab12

Originaltitel

Corsage (Österreich / Luxemburg / Deutschland / Frankreich 2022)

Länge

114 Minuten

Genre

Drama / Historie / Biographie

Regie

Marie Kreutzer

Drehbuch

Marie Kreutzer

Darsteller

Vicky Krieps, Florian Teichtmeister, Katharina Lorenz, Manuel Rubey, Jeannie Werner, Alma Hasun, Finnegan Oldfield, Aaron Friesz, Rosa Hajjaj, Lilly Marie Tschörtner, Colin Morgan

Verleih

Alamode Filmdistribution OHG

Filmwebsite

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