Der Film der Woche

Wir sind dann wohl die Angehörigen

03.11.2022

Wunderbar unaufgeregt skizziert Regisseur Hans-Christian Schmid in WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN den Entführungsfall von Jan-Philipp Reemtsma aus der Sicht seines Sohnes.

Wir schreiben das Jahr 1996, als für den 13-jährigen Johann (Claude Heinrich) plötzlich eine Welt zusammenbricht und nichts mehr so ist wie zuvor. Mit der Entführung seines Vaters Jan-Philipp Reemtsma (Philipp Hauß) erlebt er in seinem Leben zum ersten Mal so etwas wie Angst. Es folgen 33 beklemmende Tage, während derer Polizeibeamte und der befreundete Familienanwalt Johann Schwenn (Justus von Dohnányi) zu Mitbewohnern werden. Als Geldübergaben scheitern, ist er immer wieder von der Inkompetenz der Polizisten überrascht. Während ihn die verzweifelten Briefe seines Vaters erreichen, werden ihm und seiner Mutter Ann Kathrin Scherer (Adina Vetter) langsam klar, dass eine Rettung nur entgegen der Polizeistrategie möglich ist…

Als der Tabak-Erbe und Mäzen Jan-Philipp Reemtsma 1996 entführt wurde, ging die ganze Geschichte zwar durch die Presse, die komplette Dimension der gescheiterten Polizeiaktion dürfte aber nur wenigen bekannt sein. 2017 hat seit Sohn Johann Scherer begonnen, die Buchvorlage des Films zu schreiben. Für ihn ging es in erster Linie darum, die Deutungshoheit der Geschichte zu sich zurückzuholen, die lange Jahre durch die Medien ging. Nach der Veröffentlichung gab es dann etliche Angebote für eine Verfilmung, die Scherer jedoch allesamt ablehnte. Erst nach einem Gespräch mit Hans-Christian Schmid und seinem Co-Autor Michael Gutmann hatte er das Gefühl, die Geschichte in die richtigen Hände legen zu können.

Was Gutmann und Schmid letztendlich aus der Geschichte gemacht haben, ist absolut sehenswert, denn sie verzichten gänzlich darauf, den Stoff künstlich aufzubauschen oder zu dramatisieren. Stattdessen zeigen sie uns den sachlichen Blick eines 13-jährigen auf eine schier unglaubliche Entführungsgeschichte. Dass die eigentliche Entführung zu keinem Zeitpunkt gezeigt wird, ist ein äußerst cleverer Schachzug. Im Gegensatz zum Buch erweitern die Filmemacher aber hin und wieder die Perspektive auch um den Blick der Mutter, um damit auf eine Erzählstimme verzichten zu können, schließlich kann Johann in seinem Alter nicht alle Punkte komplett mitbekommen haben. Im Buch ergibt sich das aus der erwachsenen Sichtweise Johanns, aber im Film war das nicht so einfach umsetzbar.

So erleben wir im Film, wie es zu den Pannen in der Ermittlungsarbeit der Polizei gekommen ist. Was in erster Linie wie ein riesiger Berg an Inkompetenz wirkt, lässt sich im Nachhinein anders deuten. Natürlich haben sowohl Polizei als auch Familie das Bestreben, den Entführten zu retten, den Beamten ist aber zusätzlich auch die Überführung der Täter und die Aufklärung wichtig. Daher fährt ein Auto zur Geldübergabe eben auch erst dann los, wenn die Observation des Übergabeortes gewährleistet ist. Für die Familie hingegen ist die verspätete Ankunft am Zielort einzig und allein eine riesige Panne.

Für mich entstand bei der Sichtung des ersten Drittels ein seltsames Gefühl. Warum die Figur der Ann Kathrin Scherer so überhaupt keine Gefühlsregungen zeigt, war mir in dem Moment absolut schleierhaft. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass sie sich und ihrem Sohn das genau so auferlegt hatte, um die Beherrschung nicht zu verlieren. Im Buch gibt es zudem eine Szene, in der die Putzfrau kurz vor den Tränen steht und Ann Kathrin Scherer zu ihr sagt: „Wenn Sie jetzt hier anfangen zu heulen, dann sind sie raus“. Umso beeindruckter war ich später, als ich realisierte, wie viel Adina Vetter durch Blicke und Körpersprache von sich preisgegeben hat, ohne eine wirklich Gefühlsregung zu zeigen. Eine unfassbar starke Performance.

Mit seinem Film WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN ist Hans-Christian Schmid ein eindrucksvoller Film entstanden, der noch lange nachhallt. Kein Wunder, dass der Film in diesem Jahr das Filmfest Hamburg eröffnet hat.

Interviews

Im Rahmen des Filmfest Hamburg standen mir der Regisseur Hans-Christian Schmid, sowie die Darsteller Adina Vetter und Justus von Dohnányi Rede und Antwort zum Film.

Trailer

Im Rahmen der Berichterstattung
ab12

Originaltitel

Wir sind dann wohl die Angehörigen (Deutschland 2022)

Länge

118 Minuten

Genre

Drama

Regie

Hans-Christian Schmid

Drehbuch

Michael Gutmann, Hans-Christian Schmid, nach dem gleichnamigen Buch von Johann Scheerer

Darsteller

Claude Heinrich, Adina Vetter, Justus von Dohnányi, Hans Löw, Yorck Dippe, Enno Trebs, Fabian Hinrichs, Philipp Hauß

Verleih

Pandora Film GmbH & Co. Verleih KG

Filmwebsite

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