Der Film der Woche

Sorry We Missed You

30.01.2020

Ricky (Kris Hitchen), Abby (Debbie Honeywood) und ihre zwei Kinder leben in Newcastle. Sie sind eine starke, liebevolle Familie, in der jeder für den anderen einsteht. Während Ricky sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, arbeitet Abby als Altenpflegerin. Egal, wie sehr die beiden sich jedoch anstrengen, wissen sie, dass sie niemals unabhängig sein oder ihr eigenes Haus haben werden. Doch dann heißt es: Jetzt oder nie! Dank der digitalen Revolution bietet sich Ricky die Gelegenheit! Abby und er setzen alles auf eine Karte. Sie verkauft ihr Auto, damit Ricky sich einen Lieferwagen leisten und als selbständiger Kurierfahrer durchstarten kann. Die Zukunft scheint verlockend. Doch der Preis für Rickys Selbstständigkeit erweist sich als wesentlich höher als gedacht. Die Familie muss enger zusammenrücken und um ihren Zusammenhalt kämpfen. 

Kritik

Seit mehr als 50 Jahren dreht Ken Loach unermüdlich Filme, in denen er gesellschaftliche Probleme aufgreift. In SORRY WE MISSED YOU widmet er sich nun denjenigen, die durch Zero-Hour-Verträge am Existenzminimum leben…

Es ist erstaunlich, wieviel Energie der inzwischen 83-jährige Loach immer wieder aufbringt, um die Missstände in unserer Gesellschaft aufzuzeigen. Im Rahmen des Filmfests Hamburg habe ich die Regie-Legende zum Interview treffen dürfen (siehe unten) und ihn u.a. gefragt, ob er jemals erlebt hat, dass sich etwas geändert hat, nur weil er zu dem Thema einen Film gedreht hat. Die Antwort war, wie ich finde, erschütternd, denn er konnte sich lediglich an den Film CATHY CAME HOME aus dem Jahre 1967 erinnern, in dem es um Obdachlosigkeit ging. Im Anschluss habe der britische Staat tatsächlich einige Gesetze geändert, erinnert sich Loach. Umso verblüffender ist es, dass Loach trotz des hohen Alters nicht die Hoffnung verloren hat. In seinen Augen können Filme auch nichts verändern, sondern lediglich dazu aufrufen. Die Veränderung muss dann aus der Politik kommen. 

Das Besondere an SORRY WE MISSED YOU ist, wie auch in seinen anderen Filmen, die Sachlichkeit, mit der sich Loach mit dem Thema auseinandersetzt. Er drückt nicht auf die Tränendrüse, er übertreibt nicht, sondern zeigt uns eine Geschichte mitten aus dem Leben. Das so etwas überhaupt möglich ist, ist dabei das Erschütternde. Dass Menschen Jobs annehmen müssen, und dabei nicht die geringste Chance haben, dadurch ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, geschweige denn für ihre Familie da zu sein. Die Tatsache, dass Risiken und Verantwortlichkeiten auf das schwächste Mitglied der Gesellschaft abgewälzt werden, ist absolut inakzeptabel und macht verdammt wütend. 

Doch warum verhält sich die Politik so verantwortungslos gegenüber diesen Problemen? Warum ist es überhaupt möglich, dass Paketboten als selbständige Fahrer angestellt werden. Vor vielen Jahren galt das noch als Scheinselbständigkeit, aber heute scheint es erstaunlicherweise okay zu sein. Ich kann keinen anderen Grund erkennen, warum die Paketboten nicht direkt beim Paketdienst als Mitarbeiter eingestellt werden, als die Ausgaben zu drücken – und das auf Kosten der Schwächeren. 

In der mobilen Pflege ergibt sich ein ähnliches Bild, wie der Film eindrucksvoll zeigt. Auch hier werden viele Pflegekräfte ausschließlich nach Fallzahlen bezahlt. Dauert die Pflege eines Patienten einmal länger, wird das nicht bezahlt. Diese Arbeitsverträge, in denen nicht nach Arbeitszeit, sondern nach Anzahl der Patienten oder Pakete bezahlt wird, muss ein Ende finden. Am besten noch gestern. 

Natürlich spielen auch die Medien eine entscheidende Rolle in diesem Dilemma. Eigentlich müssten diese Themen immer und immer wieder behandelt werden, aber passieren tut leider nicht wirklich etwas. Warum das (vermutlich) so ist, hat Ken Loach mir ebenfalls im Interview verraten. 

Eine Sache hat Loach in SORRY WE MISSED YOU aber anders gemacht, als bislang. Dem Film fehlt der kleine Lichtblick am Horizont vollkommen. Diese Momente, die andeuten, dass etwas besser werden kann, seien sie auch noch so klein. „Ich wollte das Problem beim Publikum belassen“, so Loach im Interview, denn nur die Menschen selbst können eine Veränderung herbeirufen. 

SORRY WE MISSED YOU ist ein eindrucksvoller Film, der genau zur rechten Zeit kommt. Denn wenn wir die Menschen weiterhin mit ihren Problemen allein lassen, werden sie immer wütender. Und die Wut kann sehr schnell in die falschen Kanäle geleitet werden. Warum sind rechte Populisten wie Trump, Johnson oder die AfD so erfolgreich? Weil die Leute es satt haben, ignoriert zu werden. Das wir uns mit diesem Ruck nach Rechts aber viel mehr Probleme schaffen, als wir zu lösen gedenken, ignorieren die meisten ohne groß nachzudenken. Und so können wir immer wieder vor Rechtspopulisten und Parteien wie der AfD warnen, ändern wird sich dadurch nicht. Erst wenn die etablierten Parteien wieder anfangen, ihre Bürger ernst zu nehmen, wird sich vielleicht auch das Rechts-Problem wieder lösen. Die Hoffnung jedenfalls stirbt zuletzt. Jeder einzelne kann etwas dazu beitragen, in dem er oder sie den Politikern immer wieder auf den Zahn fühlt. 

Also gehen wir jetzt erst einmal gemeinsam ins Kino, schauen uns SORRY WE MISSED YOU an, um wütend zu werden. Eine Folge dürfte der Film in jedem Fall haben: Paketboten sollten wir zukünftig mit anderen Augen sehen und uns nicht gleich beschweren, wenn das Paket mal einen Tag später kommt. Es gibt schließlich schlimmeres. Wesentlich schlimmeres.

Interview

Im Rahmen des Filmfest Hamburg, bei dem SORRY WE MISSED YOU Premiere feierte, hatte ich die Ehre, die Regie-Legende Ken Loach zum Interview zu treffen:

Trailer

ab12

Originaltitel

Sorry We Missed You (Großbritannien / Belgien / Frankreich 2019)

Länge

101 Minuten

Genre

Drama

Regie

Ken Loach

Drehbuch

Paul Laverty

Darsteller

Kris Hitchen, Debbie Honeywood, Rhys Stone, Katie Proctor, Ross Brewster, Charlie Richmond, Julien Ions, Sheila Dunkerly, Maxie Peters, Christopher John Slater, Heather Wood, Alberto Dumba, Natalia Stonebanks, Jordan Collard, Dave Turner, Stephen Clegg, Darren Jones, Nikki Marshall

Verleih

Filmwelt Verleihagentur GmbH

Filmwebsite

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