Der Film der Woche

See How They Run

27.10.2022

Schade, dass es für das wunderbare englische Wort „sophisticated“ keine passende deutsche Übersetzung gibt. Der Begriff kann vieles bedeuten: weltgewandt, kultiviert, geistreich oder intellektuell. Und der ironische Krimi SEE HOW THEY RUN von Tom George ist DER „sophisticated“ Film unserer Tage – von der ersten bis zur letzten Minute! Diesen Spaß sollte sich niemand entgehen lassen.

London, 1953: In einem West-End-Theater läuft seit Monaten das Erfolgsstück „Die Mausefalle“ von Agatha Christie. (Und es läuft dort immer noch – mit einer kurzen Unterbrechung während der Covid-19-Pandemie.) Der blasierte Hollywood-Regisseur Leo Köpernick (Adrien Brody) ist nach London gereist, um über die Verfilmung des Stücks zu verhandeln. Lang und breit erzählt er jedem (auch uns Zuschauern im Voice-Over-Kommentar), dass er natürlich keinen Whodunit-Krimi drehen werde – von diesem verbrauchten Genre halte er gar nichts. Auch ein Storyboard habe er bereits fertig. Zu dumm, das er beim Besuch im Theater hinter der Bühne von einem Unbekannten erwürgt wird. Man erkennt nur dessen dunklen Mantel und einen Schlapphut.

Jeder der Schauspielerinnen und Schauspieler kann der Täter sein, und so lässt der ermittelnde Inspector Stoppard (Sam Rockwell) nach der Vorstellung alle Verdächtigen im Zuschauerraum Platz nehmen. An seiner Seite agiert eine übereifrige Polizistin, die noch in der Ausbildung steckt: Constable Stalker (Saoirse Ronan). Leo hatte zu Beginn angekündigt, in seinem Filme gebe es keine Rückblenden – doch Tom George widersetzt sich in SEE HOW THEY RUN konsequent und herrlich ironisch diesem Diktat. In mehreren Rückblenden erleben wir Leo, wie er gleich von zwei Beteiligten Morddrohungen erhält. Diese bewussten Brechungen, Anspielungen und Schlenker durchziehen den ganzen Film – hier ist (fast) alles auf eine Meta-Ebene gehoben. Und Tom George kommentiert dies zusätzlich visuell, indem er ständig mit Split-Screen-Effekten arbeitet.

Einer der Verdächtigen ist der (echte) Richard Attenborough (Harris Dickinson), der im Theaterstück den Inspektor spielt. Attenborough war übrigens schon damals ein britischer Filmstar. Später wurde er zudem ein erfolgreicher Regisseur („Gandhi“). Wir erleben, wie Constable Stalker hin und weg ist, bei der Befragung diesen berühmten Mann kennenlernen zu dürfen.

Irgendwann könnte jeder der Täter sein, und wir Zuschauer verlieren irgendwann das Interesse am Rätselraten. Doch das gilt wohl für jeden Whodunit-Krimi. Kein Wunder, dass Alfred Hitchcock dieses Genre hasste – für ihn war „suspense“ das Wichtigste, wobei der Zuschauer immer mehr wusste als die handelnden Personen.

Sam Rockwell legt seinen leicht schusseligen und trinkfesten Inspector als eine Art Columbo-Figur an, der Zoff mit seinem Vorgesetzten hat und von seiner hektischen Assistentin ständig genervt ist. Doch mit dieser Rolle als Constable Stalker ist Saoirse Ronan der Star von SEE HOW THEY RUN. Wie sie mit ihrem hinreißenden irischen Akzent immer wieder versucht, die Beste zu sein, um gleich darauf ins nächste Fettnäpfchen zu treten, ist schlichtweg atemberaubend.

Die Künstlichkeit der Studio-Atmosphäre versucht Tom George gar nicht erst zu kaschieren, dieses London ist nicht echt, dieses Spiel mit mehreren Ebenen ist genauso gewollt. Nur gegen Ende überdrehen der Regisseur und sein Drehbuchautor Mark Chappell in meinen Augen ihr Spiel mit den ständigen Brechungen einen Schlenker zu viel: Denn im Finale tritt auch Agatha Christie (Shirley Henderson) höchstpersönlich auf. Das wirkt leider allzu bemüht. Doch bis dahin haben wir einen der unterhaltsamsten Filme des Jahres gesehen. Intelligentes Kino vom Feinsten!

Trailer

ab12

Originaltitel

See How They Run (USA 2022)

Länge

98 Minuten

Genre

Komödie / Krimi

Regie

Tom George

Drehbuch

Mark Chappell

Darsteller

Sam Rockwell, Saoirse Ronan, Adrien Brody, Ruth Wilson, David Oyelowo, Harris Dickinson, Pearl Chanda, Sian Clifford

Verleih

Walt Disney Studios Motion Pictures Germany GmbH

Weitere Neustarts am 27.10.2022