Der Film der Woche

Past Lives – In einem anderen Leben

17.08.2023

Gleich vorweg eine persönliche Bemerkung: Ich sitze seit unglaublichen 60 (!) Jahren in den Hamburger Kinos – doch diese grandiose Eingangssequenz war auch für mich etwas völlig Neues. Die Kamera beobachtet drei Menschen – eine Frau und zwei Männer -, die an der Theke einer Bar sitzen. Die anonyme Stimme aus dem Off stellt Vermutungen an: Wie stehen diese drei Personen zueinander, ohne dabei zu einer Lösung zu kommen. Doch wir Kinozuschauer erleben sofort eine Art Initialzündung – wir wollen alles über diese Drei erfahren. Und dafür haben wir 106 Minuten Zeit. Genial! Mit dieser brillanten ersten Szene lockt uns die in New York lebende Celine Song mit ihrem Spielfilmdebüt PAST LIVES in ein cineastisches Wunderwerk, das hoffentlich jeden begeistern wird.

Der Film ist streng strukturiert, ohne dabei schematisch zu wirken: 12 + 12 + 12. Als Kinder sind Nora (Seung Ah Moon) und Hae Sung (Seung Min Yim) im südkoreanischen Seoul Schulkameraden und enge Freunde. Jeden Tag begleitet er sie nach Hause ins Treppenviertel am Rande der Metropole. Man spürt sofort: Hier ist sehr viel Sympathie im Spiel – vielleicht sogar der Beginn einer jugendlichen Liebe. Doch für Nora heißt es Abschied nehmen, sie und ihre Eltern wollen nach Kanada auswandern.

Zwölf Jahre später hat sich Nora (jetzt: Greta Lee) als Theaterautorin in New York etabliert. Durch aufwändige Internet-Recherche hat Hae Sung (jetzt: Teo Yoo) die Adresse seiner Jugendliebe erfahren und knüpft per Skype einen neuen Kontakt. Die Sympathie ist sofort wieder da – doch irgendwann wird es Nora zu viel und bricht das Ganze ab. Bei einem Literaten-Treffen in Montauk lernt sie den jüdischen Schriftsteller Arthur (John Magaro) kennen, verliebt sich in ihn, und beide heiraten.

Wieder zwölf Jahre später rafft sich der in Südkorea gebliebene Hae Sung endlich auf, Nora in New York zu besuchen. Arthur erwartet Hae Sung naturgemäß mit gemischten Gefühlen – nach dem Motto: Wie stark ist die einstige enge Verbindung? Nora lädt Hae Sung zum klassischen Ausflugsprogramm ein, einschließlich einer Bootsfahrt vorbei an der Freiheitsstatue. Am Abend sitzen die Drei zum Pasta-Essen in einem italienischen Restaurant und später an der Bar (siehe die Eingangssequenz). Da sich Nora und Hae Sung den ganzen Abend auf Koreanisch unterhalten, fühlt sich Arthur natürlich als Außenseiter. Wie kommt er mit dieser ungewohnten Rolle klar?

Die Regisseurin Celine Song hat in ihrem eigenen Drehbuch offensichtlich sehr viel Autobiografisches mit einfließen lassen – das macht PAST LIVES umso intensiver. Der Filmtitel sagt schon alles: Wie geht eine junge, energische Frau mit ihrem früheren Leben um? Wie lebt es sich zwischen zwei Kulturen und zwei Sprachen? Für diese großen Themen findet Celine Song eindrucksvolle poetische Bilder – und das in ihrem Spielfilmdebüt!

Celine Song zeigt in ihrem Timing sehr viel Gespür für die richtige Länge der einzelnen Szenen. Was ist wichtig, was ist überflüssig? Für Hae Sungs aufgezwungenen Militärdienst in Südkorea braucht sie nicht einmal eine Minute, und auch das Kennenlernen von Nora und Arthur in Montauk handelt sie kurz und schnörkellos ab. Dieser elliptische Regiestil mag für manchen Zuschauer gewöhnungsbedürftig sein – doch Celine Song wusste von Anfang an genau, wie sie den Rhythmus ihres Films steuern wollte.

Noch ein Wort zum Finale: Wie wird sich Nora entscheiden? Wem in der letzten Szene keine Tränen kommen, hat das Phänomen „Kino“ nicht begriffen. Dieses Regiedebüt ist eine Sensation!

Trailer

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Originaltitel

Past Lives (USA / Korea 2023)

Länge

106 Minuten

Genre

Drama

Regie

Celine Song

Drehbuch

Celine Song

Darsteller

Greta Lee, Teo Yoo, John Magaro, Seung Ah Moon, Seung Min Yim, Ji Hye Yoon, Won Young Choi, Min Young Ahn

Verleih

Studiocanal GmbH

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