In ihrem zweiten Spielfilm NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN entführt uns Sabrina Sarabi in die Welt der ländlichen Provinz und erzählt mit einer unfassbar starken Saskia Rosendahl von einer jungen Frau, die ausbrechen will – aber nicht weiß, wohin.
Fünf Häuser, eine Bushaltestelle und jede Menge Kühe in der mecklenburgischen Provinz und rundherum nur Felder: das ist die Welt von Christin (Saskia Rosendahl), die mit ihrem Freund Jan (Rick Okon) auf dem Milchvieh-Hof seines Vaters lebt, den die beiden irgendwann einmal übernehmen sollen. Eine Liebe, die längst erloschen ist, sowie keinerlei Perspektive auf Veränderungen, lassen in Christin nur einen Wunsch aufkommen: weg von hier. Nur das „wohin“ ist ihr selbst mit Mitte Zwanzig noch nicht wirklich klar. Als plötzlich der Windkraftingenieur Klaus (Godehard Giese) auftaucht, sieht Christin in ihm so etwas wie ihr Ticket in die große Stadt. Dumm nur, dass er ihr nach dem bedeutungslosen Sex erstmal von Frau und Kind erzählt…
Bei den Filmfestspielen in Locarno hat Saskia Rosendahl für ihre Rolle den Darstellerpreis erhalten. Wenn man diesen Film sieht, ist ganz schnell klar, warum das mehr als gerechtfertigt war. Saskia Rosendahl trägt ihn mit ihrem unfassbar eindrucksvollen Spiel komplett alleine. Selbst die wenigen Dialogsätze, die sie von sich geben darf, wären nicht nötig gewesen, denn was diese Schauspielerin allein durch ihre Mimik, Gestik und ihre Körperhaltung vermittelt, ist überragend. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt eine solche Leistung auf der Leinwand bewundern durfte.
Die Kamera klebt förmlich die ganze Zeit direkt an Saskia Rosendahl und gönnt ihr nicht die geringste Ruhe. Das wirkt aus Zuschauersicht extrem anstrengend, und man kann nur erahnen, was für Strapazen sie für die Dreharbeiten vermutlich auf sich genommen hat.
Je mehr der Film fortschreitet, desto mehr bekommt man ein Bild davon, warum Christin unbedingt aus ihrem Leben ausbrechen möchte. Da wäre ihr Freund, der mit ihr kaum ein Wort wechselt, geschweige denn überhaupt irgendeine romantische Geste zustande bringt. Nein, diese Liebe ist bereits mehr als erkaltet. Hinzu kommt der alkoholkranke Vater, der allein kaum lebensfähig ist, und die beste Freundin, deren Loyalität man durchaus in Frage stellen kann. Aber auch die anderen jungen Männer aus dem Dorf leben in ihrer ewig gestrigen Welt und bieten Christin nicht den geringsten Anreiz. Kein Wunder also, dass sie sich an den erstbesten Typen schmeißt, der in der Gegend auftaucht und all ihre Hoffnungen und Wünsche auf ihn projiziert. Dumm nur, dass auch er nur an schnellem, lieblosen Sex interessiert ist.
Christin rebelliert auf ihre ganz eigene Art und Weise. Sie läuft in Hotpants und knappen Oberteilen umher, die so überhaupt nicht in ihre Umgebung passen. Die nur schreien „Ich will weg“. Ein solches Verhalten ist jedoch vielleicht in der Pubertät in Ordnung, für eine Mittzwanzigerin jedoch vollkommen unverständlich. Doch wohin soll sie gehen, was soll sie machen? „Ich kann doch nichts“, sagt sie in einer Szene und trifft damit eigentlich den Nagel auf den Kopf. Gewissermaßen hat sie sich irgendwie innerlich doch mit ihrer Situation abgefunden. Nur eingestehen will sie sich das (noch) nicht. Als sie am Ende des Films am Steuer des Wagens ihres Bruders sitzt, könnte das ein Aufbruch sein. Nur wohin es gehen wird und ob ihr das wirklich gelingen wird, bleibt offen.
Mit NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN ist der iranischstämmigen und in Kassel aufgewachsenen Regisseurin Sabrina Sarabi ein wahres Meisterwerk gelungen, dass sich wohlwollend von allen anderen Filmen abhebt, die uns vom Leben auf dem Land erzählen möchten.
Im Rahmen des Filmfests Hamburg 2021 haben wir die Regisseurin und Drehbuchautorin Sabrina Sarabi, sowie die Hauptdarstellerin Saskia Rosendahl zum Interview getroffen und mit ihnen über den Film und die Dreharbeiten gesprochen.
Niemand ist bei den Kälbern (Deutschland 2021)
116 Minuten
Drama
Sabrina Sarabi
Sabrina Sarabi, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Alina Herbing
Saskia Rosendahl, Rick Okon, Godehard Giese, Enno Trebs, Peter Moltzen, Anne Weinknecht und als Gast Elisa Schlott
Filmwelt Verleihagentur GmbH