Memory

03.10.2024

Nicht jeder Kinofan liebt das Stilprinzip des „unzuverlässigen Erzählens“. Doch darauf müssen wir uns in dem psychologischen Liebesdrama MEMORY von Michel Franco einlassen. Von Beginn an weigert sich der mexikanische Regisseur, den Zuschauern die Gründe für das merkwürdige Verhalten der beiden Hauptpersonen und ihre Beziehung zueinander näher zu erläutern. Was ist hier Fantasie, was Realität? Was wie ein Thriller beginnt, entwickelt sich zu einer raffinierten psychopathologischen Fallstudie.

Die New Yorkerin Sylvia (Jessica Chastain) kämpft in einer Gruppe der Anonymen Alkoholiker gegen ihre ehemalige Sucht an und kümmert sich als Sozialarbeiterin in einem Pflegeheim um alte, hilflose Menschen. Die alleinstehende Mutter lebt mit ihrer 13-jährigen Tochter Anna (Brooke Timber) in einer streng gesicherten Wohnung eines heruntergekommenen Stadtteils. Sie hat offensichtlich panische Angst vor Männern und hütet ihre Tochter wie ein Augapfel. Sogar den männlichen Handwerker lässt sie nur widerwillig in die Küche.

Bei einem Highschool-Jahrgangstreffen, das sie mit ihrer Schwester Olivia (Merritt Wever) besucht, setzt sich ein ihr scheinbar Unbekannter, Saul (Peter Sarsgaard), an ihren Tisch. Sie fühlt sich belästigt und verlässt die Feier. Doch Saul verfolgt sie bis zu ihrer Wohnung. Auch am nächsten Morgen hockt der Mann noch vor ihrer Haustür. Erst dessen zu Hilfe gerufener Bruder Isaac (Josh Charles) klärt Sylvia auf, dass Saul an einer Demenz leidet und eigentlich das Haus nie verlassen darf. Bei einem zufälligen Treffen im Park wirft Sylvia Saul dann wie aus dem Nichts vor, sie als Zwölfjährige an der Schule sexuell belästigt zu haben.

Verstört bricht die Frau jeglichen Kontakt ab – doch Isaacs Tochter Sara (Elsie Fisher) überredet sie, sich gegen Bezahlung um deren völlig harmlosen Onkel zu kümmern. Wider besseres Wissen willig Sylvia ein, da ihr Zweifel an der Vorgeschichte kommen. Angeblich waren das Mädchen und der Junge damals nicht gleichzeitig an der Schule. Und was verschweigt Sylvias Mutter Samantha (Jessica Harper), zu der ihre Tochter den Kontakt fast komplett abgebrochen hat?

Regisseur Michel Franco, der auch das Drehbuch schrieb, verlangt uns in diesem unentwirrbaren Netz aus Traumata und Demenz viel ab, Empathie für die beiden verstörten Seelen zu empfinden. Und hier gelingen Oscar-Preisträgerin Jessica Chastain und Peter Sarsgaard, der für seine Rolle 2023 In Venedig mit dem Preis für den Besten Darsteller ausgezeichnet wurde, zwei denkwürdige Leistungen.

In seinem hintergründigen Überraschungserfolg „Sundown – Geheimnisse in Acapulco“ (2021) mit Tim Roth in der Hauptrolle zeigte der mexikanische Regisseur den Zerfall einer Familie, in MEMORY den zu Herzen gehenden Versuch zweier Außenseiter, gegen alle Widerstände einen Neuanfang zu wagen. Gemeinsam mit seinem genialen belgischen Kameramann Yves Cape gelingt ihm hier eine visuelle Achterbahnfahrt, ein filmischer, fast unwirklicher Schwebezustand. Zugegeben, das ist intensives Kino!

Trailer

Im Rahmen der Berichterstattung
ab12

Originaltitel

Memory (USA / Mexiko 2023)

Länge

103 Minuten

Genre

Drama

Regie

Michel Franco

Darsteller

Jessica Chastain, Peter Sarsgaard, Merrit Wever, Josh Charles, Brooke Timber Elsie Fisher, Jessica Harper

Verleih

MFA+ FilmDistribution e.K.

Filmwebsite

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