Irgendwann werden wir uns alles erzählen

13.04.2023

Nach ihrem Ausflug nach Norwegen mit dem Film „Mehr denn je“, den sie auf Französisch und Englisch drehte, ist die in Berlin als Tochter französisch-iranischer Eltern geborene Emily Atef in ihre Heimat zurückgekehrt. IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN ist die Geschichte einer unmöglichen Liebe und spielt wenige Monaten vor der Wiedervereinigung.

Ein Dorf in Thüringen im heißen Sommer 1990, kurz nach der Währungsunion. Die Mauer ist vor einem dreiviertel Jahr gefallen, und jetzt hat die DDR, die bereits in den letzten Zügen liegt, auch noch die D-Mark übernommen. Da sich die 19-jahrige Maria (Marlene Burow) nicht mit ihrer arbeitslosen Mutter Hannah (Jördis Triebel) versteht, lebt sie bei ihrem Freund Johannes (Cedric Eich), dessen Eltern einen Bauernhof mit angeschlossenem Hofladen betreiben. Zur Schule geht Maria, die kurz vor dem Abi steht, längst nicht mehr („Die Lehrer sind sowieso alle weg“). Wenn sie nicht gerade im Hofladen aushelfen muss, verbringt sie ihre Tage mit lesen. In jeder freien Minute hockt sie mit Dostojewskis 1000-Seiten-Roman „Die Brüder Karamasow“ im Schatten oder in der Sonne – was ihr aber niemand übel nimmt. Johannes’ Eltern haben sie längst als eine Art Tochter ins Herz geschlossen.

Maria hat offensichtlich ihren Platz im Leben noch nicht gefunden – doch als Tagediebin fühlt sie sich – wenn sie ehrlich ist – auch nicht wohl. Zufällig begegnet sie bei einem ihrer rastlosen Spaziergänge Henner (Felix Kramer), dem Bauern des benachbarten Hofes. Es reicht eine flüchtige Berührung, und es ist um beide geschehen. Maria und der doppelt so alte Henner verstricken sich in eine leidenschaftliche Amour Fou, die sie natürlich vor aller Augen verheimlichen müssen. Das ist in einem kleinen Dorf nicht ganz einfach. Um Johannes nicht misstrauisch zu machen, schiebt Maria ständig Besuche bei ihrer Mutter im Nachbarort vor.

Trotz ihrer Jugend ist Maria die treibende Kraft in dieser unmöglichen Beziehung. Nur allmählich öffnet sich der eigenbrötlerische Henner der neuen Liebe – der im Dorf nicht sehr angesehene Einzelgänger hatte einfach zu lange allein gelebt. Dieses wechselseitige Begehren zeigt uns die Regisseurin mit ungewöhnlicher Offenheit. Die sexuelle Begierde nimmt man diesem Paar in jeder Sekunde ab. Am Ende des Sommers hat Maria den Roman durchgelesen, und gleichzeitig ringt sie sich zu einer Entscheidung durch: Sie will sich zu ihrer Liebe öffentlich bekennen und zu Henner ziehen. Wie kann der das verkraften? Das Drama beginnt…

In IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN verzahnt Emily Atef auf einzigartige Weise das Politische mit dem Privaten. Den Zusammenbruch eines Staates setzt sie in Kontrast zum möglichen Ende von gleich zwei Beziehungen (ohne zu viel zu verraten). Für diese mutige Struktur finden die Regisseurin und ihr Kameramann Armin Dierolf eindrucksvolle Bilder. Immer wieder schaffen menschenleere Landschaftsaufnahmen die nötige Distanz, die uns Zuschauern Zeit zum Reflektieren geben. (Dieses ungewöhnliche Konzept erinnert mich übrigens an die Filme des Schweizers Alain Tanner, den ich zutiefst verehre.)

Die blutjunge Marlene Burow, die wir vor einem knappen Jahr mit ihrer ersten Hauptrolle in „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ (auch ein Film über die DDR) bewundern durften, ist als Maria ein Phänomen und hat mit Felix Kramer, der wunderbar störrisch spielt, einen gleichwertigen Partner. IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN wirkt wie der ebenso gelungene Gegenentwurf zum Film „Niemand ist bei den Kälbern“ von Sabrina Sarabi, der uns vor einem Jahr alle begeisterte. Schade, dass Emily Atefs Film bei der Berlinale keinen Preis erhielt. Er hätte es verdient gehabt.

Interview

Im Rahmen der 73. Berlinale 2023 hatte nochnfilm-Chefredakteur Michael Spangenberg die Gelegenheit, sich mit den Schauspieler:innen Marlene Burow und Felix Kramer über ihren Film IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN zu unterhalten. Sie sprachen u.a. über die Annäherung an ihre Rollen, sowie die Arbeit mit der Intimitäts-Koordinatorin Sarah Lee.

Trailer

Im Rahmen der Berichterstattung
ab16

Originaltitel

Irgendwann werden wir uns alles erzählen (Deutschland / Frankreich 2023)

Länge

133 Minuten

Genre

Drama / Romanze

Regie

Emily Atef

Drehbuch

Emily Atef, Daniela Krien, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Daniela Krien

Darsteller

Marlene Burow, Felix Kramer, Cedric Eich, Silke Bodenbender, Christine Schorn, Jördis Triebel

Verleih

Pandora Film GmbH & Co. Verleih KG

Filmwebsite

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