Zwei senegalesische Jugendliche machen sich auf den Weg in Richtung verheißungsvolles Europa. Wie aus dem geplanten Roadtrip jedoch eine Reise ums pure Überleben wird, zeigt ICH CAPITANO in eindrucksvollen Bildern.
Seydou (Seydou Sarr) und Moussa (Moustapha Fall) leben im Senegal und teilen sich einen Traum: Sie wollen unbedingt in Europa leben und dort als Musiker berühmt werden. Obwohl ihnen alle im Dorf von der Reise abraten, machen sich beiden irgendwann doch heimlich auf den Weg – Ihr Drang nach einem besseren Leben ist eben doch wesentlich größer. Doch schon bald müssen sie ernüchtert feststellen, dass ihre Reise mit Abenteuerlust so überhaupt nichts zu tun hat. Jeder versucht, an ihrem Wunsch nach Freiheit mitzuverdienen, sie verdursten beinahe in der Wüste und landen zudem noch in einem libyschen Gefängnis – dabei steht ihnen der schwierigste Teil noch bevor: Die Überquerung des Meeres in einem mehr als fragwürdigen Boot. Uns so müssen die beiden Freunde nicht nur für ihren Traum kämpfen, sondern auch um ihr pures Überleben…
ICH CAPITANO feierte seine Weltpremiere im Rahmen der 80. Internationalen Filmfestspiele von Venedig. Matteo Garrone wurde dort mit dem Silbernen Löwen für die „Beste Regie“ ausgezeichnet, Seydou Sarr mit dem „Marcello-Mastroianni-Preis“ als bester Nachwuchsdarsteller. Wer ICH CAPITANO gesehen hat, der weiss, warum. Der italienische Regisseur Matteo Garrone zeigt uns in eindrucksvollen Bildern, welchen unmenschlichen Gefahren sich Menschen aussetzen für die Aussicht auf ein besseres Leben.
Wir alle kennen die Berichte aus den Medien über gekenterte Boote im Mittelmeer, im Wasser treibende Leichen und verzweifelt um Hilfe bittende Migrant:innen. Viele sind an diese Bilder bereits so gewöhnt, dass sie nur noch die Zahlen wahrnehmen, die im Zusammenhang der Berichterstattung genannt werden. So auch Matteo Garrone, wie er selbst zugegeben hat. Als er sich dann in Vorbereitung auf den Film ein Aufnahmezentrum für minderjährige Flüchtlinge besuchte, wurde ihm die eindrucksvolle Geschichte eines jungen Afrikaners erzählt, der im jungen Alter von 15 Jahren ein Boot bis an die italienische Küste steuerte und somit das Leben aller Passagiere rettete. Daraus reifte die Entscheidung, die gegenteilige Perspektive der klassischen Medienberichterstattung einzunehmen. Schließlich ist die gefahrvolle Überfahrt des Mittelmeers nur die Spitze des Eisbergs. Welche Qualen die Menschen vorher bereits ertragen müssen, bleibt uns Europäern nahezu komplett verborgen.
ICH CAPITANO klammert daher bewusst aus, wass die Geflüchteten später in Europa erleben müssen. Wenn sich die beiden Jungen zu Beginn einreden, Europa würde nur auf sie warten, ist uns als Zuschauer natürlich sofort bewusst, dass das lediglich eine Illusion ist. Und so müssen wir erleben, wie sich ausbeuterische Schlepper mit mafiösen Strukturen am Leid der Flüchtenden bereichern, oder wie libysche Rebellen die Gefangenen bis aus Blut foltern, um von Verwandten ein Lösegeld zu erpressen. All das ist in manchen Szenen nur schwer zu ertragen, gerade weil man weiß, dass es genau so oder so ähnlich dort täglich passiert. Doch zum Glück gelingt es Garrone, diesen schweren Bilder auch etwas Gegensätzliches entgegenzusetzen, in dem er in einigen wenigen Sequenzen ins Magische abdriftet.
Allem voran sind es jedoch die eindrucksvollen Landschaftsaufnahmen, die uns Zuschauern dabei helfen, nicht vollends an der Geschichte zu verzweifeln. Am Ende mag man vielleicht kritisieren, dass die vielen Schicksalsschläge, die unsere Protagonisten ertragen müssen, vielleicht doch allzu arg konstruiert sind. Dennoch entstammen diese allesamt den Erzählungen der Geflüchteten, mit denen sich Garrone zum Film ausgetauscht hatte. Sie sind vielleicht nicht in der Summe einer einzigen Person widerfahren, das sollte und jedoch nicht zu führen, den gesamten Film in Frage zu stellen.
ICH CAPITANO ist ein sehenswerter und vor allem immens wichtiger Film, der eindrücklich zeigt, dass die Gründe für eine Flucht vielfältig sind, und wir uns die Strapazen, die diese Menschen auf sich nehmen, nicht einmal ansatzweise vorstellen können.
Io Capitano (Italien / Belgien 2023)
124 Minuten
Drama
Matteo Garrone
Matteo Garrone, Massimo Gaudioso, Massimo Ceccherini, Andrea Tagliaferri
Seydou Sarr, Moustapha Fall, Issaka Sawadogo
X Verleih AG