Everything Everywhere All at Once

28.04.2022

„Spider-Man: No Way Home“ hat vielleicht das Multiverse eröffnet, aber das Regie-Duo „Daniels“ treibt es mit EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE auf die Spitze. Absurd geniales Action-Kino, eine Verbeugung vor dem Medium und eine sensationelle Michelle Yeoh – mehr benötigt man nicht für ein Meisterwerk…

Evelyn Wang (Michelle Yeoh) besitzt einen Waschsalon und droht, im allgemeinen Chaos des Alltags unterzugehen. Der Besuch ihres Vaters (James Hong) überfordert sie, die Wünsche ihrer Kunden bringen sie um den Verstand, und dann wäre da auch noch die Steuererklärung, für die die letzte Frist heute abläuft. Ein Besuch im örtlichen Finanzamt ist also unausweichlich, und während sie zusammen mit ihrer Familie bei der Steuerprüferin Deirdre Beaubeirdra (Jamie Lee Curtis) vorspricht, wird ihre Welt komplett aus den Angeln gehoben. Ihr Mann Waymond (Ke Huy Quan) spricht plötzlich ohne Akzent und versucht ihr klarzumachen, dass so etwas wie ein Multiversum existiert und man dringend ihre Hilfe bräuchte. Sie entdeckt, dass die Menschen um sie herum, genauso wie sie selbst, weitere Leben in Parallelwelten haben. Hals über Kopf muss sie lernen, wie sie auf die Fähigkeiten und die Leben anderer Versionen ihrer selbst zugreifen kann, schließlich steht nichts Geringeres als die Rettung der Welt vor dem ultimativen Bösen auf dem Spiel. Ach ja, und die Steuererklärung und damit die Zukunft ihres Waschsalons ebenso…

Als EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE im März dieses Jahres das „SXSW Festival (South by Southwest)“ in texanischen Austin eröffnete, waren Kritiker und Publikum gleichermaßen begeistert. Schnell machten Ausdrücke wie „Meisterwerk“ oder „Kultfilm“ die Runde. Entsprechend groß war die Erwartungshaltung meinerseits und nach inzwischen zwei Sichtungen kann ich behaupten: „Ja, es stimmt!“

Der Film ist ein wahres Feuerwerk an grandiosen Einfällen und spielt nahezu perfekt mit der Idee des Multiversums. Trotz seiner Lauflänge von zwei Stunden und 19 Minuten wirkt er zu keinem Zeitpunkt zu lang – Im Gegenteil: Ich hätte gerne noch Stunden in dieser unfassbar abgefahrenen Welt verbracht.

Es ist schier unmöglich, alle Details des Films in nur einer Sichtung zu erfassen, dafür passiert einfach zu viel auf der Leinwand. Gefühlt Tausende kleiner Gimmicks haben die Regisseure Daniel Kwan und Daniel Scheinert, die bereits seit mehr als zehn Jahren gemeinsam als „Daniels“ Filme führen, in ihrem Film versteckt. Das wirkt auf den ersten Blick verwirrend, und ich kann verstehen, dass man als Zuschauer sehr schnell dazu neigen könnte abzuschalten, weil man all diese Hinweise in der Kürze der Zeit gar nicht einordnen kann. Das ist jedoch nicht schlimm, denn EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE führt alle Stränge am Ende zu einem sinnvollen Ganzen zusammen, garniert mit einer besonders in der heutigen Zeit wichtigen Botschaft. Denn der Film funktioniert gleich auf mehreren Ebenen.

In erster Linie wäre da das Familiendrama. Der Blick auf die Kluft zwischen den Generationen und die ständige Überforderung, alles und jedem gerecht zu werden. Als zweite Ebene kommt die Science-Fiction hinzu, die das Drama um eine fantastische Sphäre erweitert. Dabei haben die beiden Regisseure aber besonders darauf Acht gegeben, diejenigen Zuschauer nicht zu vergraulen, die um Sci-Fi-Filme sonst einen großen Bogen machen. Zu guter Letzt wird der Film noch um die philosophische Ebene erweitert, die der teilweise absurden Geschichte eine emotionale und gesellschaftskritische Ambivalenz verleiht.

Grandios ist zudem die Entscheidung, Michelle Yeoh in der Hauptrolle zu besetzen. In einer früheren Phase des Drehbuchs schwebte den „Daniels“ einmal Jackie Chan in der Hauptrolle vor, doch schnell wurde ihnen klar, dass das nicht wirklich funktionieren würde. Irgendwann kamen beide dann auf die Idee, aus dem Film ein spätes Karrierehighlight von Michelle Yeoh zu machen. Plötzlich ergab alles irgendwie einen Sinn, und sie änderten das Drehbuch. Ohne die wunderbare Darstellerin, die ihren großen Durchbruch mit „Tiger & Dragon“ hatte und zuletzt in „Gunpowder Milkshake“ zu sehen war, wäre der Film aber vermutlich nie zustande gekommen. „Wenn sich herausgestellt hätte, dass Michelle Yeoh eine schreckliche Person ist, wäre der Film gestorben“, so Scheinert. Zum Glück ist das jedoch nicht geschehen.

In der Rolle des Waymond, Evelyns Gatte, feiert ein ehemaliger Kinder-Star sein Comeback. Ke Huy Quan war als „Short-Round“ in „Indiana Jones und der Tempel des Todes“ zu sehen, so wie als „Data“ in „Die Goonies“. Trotz dieser Paraderollen blieben die Folge-Angebote jedoch aus, und so besuchte er die Filmhochschule und arbeitete fortan verstärkt hinter der Kamera, u.a. bei „X-Men“ und „The One“ als Assistent des legendären Choreografen Corey Yuen. Nach dem Erfolg von Filmen wie „Crazy Rich Asians“ war ihm jedoch klar, dass jetzt vermutlich der beste Zeitpunkt war, es noch einmal mit der Schauspielerei zu versuchen. Also sprach er vor und bekam die Rolle.

Wer den ersten Langfilm der „Daniels“ kennt, der weiß in etwa, was ihn erwartet. In „Swiss Army Man“ ließen sie Paul Dano und Daniel Radcliffe in einer Robinson-Crusoe-ähnlichen Situation mit ziemlich viel körpereigenen Gasen spielen. Die Absurdität liegt den beiden also förmlich im Blut. Jamie Lee Curtis als leicht verrückte Finanzbeamtin hatte daran sichtlich Spaß – selten hat man sie so lustvoll und befreit spielen sehen.

Als wäre das alles noch nicht genug, haben Kwan und Scheinert etliche Referenzen an Klassiker des Films eingebaut. Sei es „2001 – Odyssee im Weltall“ oder „Ratatouille“ – niemals wirken diese Anspielungen als Kopien, sondern immer als Verbeugung vor dem Kino selbst. Die beiden Regisseure haben zwar immer wieder betont, dass sie keine wirklichen Kino-Nerds sind, aber ihre Liebe zu diesem Medium ist nicht von der Hand zu weisen.

In der Summe ist EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE ein unfassbar absurder Trip, der anfangs etwas überfordernd wirkt, zum Ende hin aber alle Handlungsstränge perfekt zusammenführt. Und es ist einfach der beste Film, der jemals in einem Finanzamt gespielt hat. Das muss man auch erst mal schaffen…

Trailer

ab16

Originaltitel

Everything Everywhere All at Once (USA 2022)

Länge

139 Minuten

Genre

Action / Science-Fiction / Komödie

Regie

Daniel Kwan, Daniel Scheinert

Drehbuch

Daniel Kwan, Daniel Scheinert

Darsteller

Michelle Yeoh, Jamie Lee Curtis, Stephanie Hsu, Ku Huy Quan, James Hong

Verleih

Leonine Distribution GmbH

Filmwebsite

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