Dieser erschütternde Film lässt niemanden kalt. Die Jury beim Filmfestival von Venedig bewies viel Mut, dem Drama DAS EREIGNIS von Audrey Diwan den Goldenen Löwen zu überreichen. In Zeiten der Me-Too-Debatte und in denen die Diskussionen über die Selbstbestimmung der Frau unser Leben bestimmen, kann kein Film aktueller sein – obwohl er 1963 (!) spielt. Frei nach dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Annie Ernaux zeigt die Regisseurin ein düsteres Kapitel aus dem Leben einer jungen Französin.
Das Landei Anne (Anamaria Vartolomei) – ihre Eltern betreiben in der Provinz eine Dorfkneipe – studiert an der Universität mit viel Engagement Literaturwissenschaft. Sie möchte Autorin werden. Mit ihren Kommilitoninnen geht sie zwar abends aus – aber Männer lässt sie nicht an sich ran. Die Mädchen sind alle noch Jungfrauen, denn in Zeiten, wo sich die Anti-Baby-Pille noch im Versuchsstadium befand, ist eine ungewollte Schwangerschaft gleichbedeutend mit Berufsverbot. Doch das Unvermeidliche geschieht: Anne wird nach einer kurzen Affäre schwanger. Der Universitätsabschluss scheint in weite Ferne zu rücken, denn Abtreibung steht 1963 auch in Frankreich noch unter Strafe. Sie und der behandelnde Arzt könnten im Gefängnis landen.
Der erste Arzt verweigert die Hilfe, der zweite verschreibt eine Spritze, die ihr helfen könnte. Aber das Medikament stärkt nur den Embryo. Perfider kann ein Mediziner nicht sein! In ihrer Verzweiflung legt Anne selbst Hand an sich. Mit einer glühend heißen Stricknadel wühlt sie in ihrem Unterleib herum. Diese Szene ist so unerträglich, dass man nicht mehr hinschauen möchte – obwohl uns die Regisseurin die grausamen Details erspart. Ihr Dorf-Hausarzt verkündet ihr die ernüchternde Diagnose: Der Embryo hat überlebt. Schließlich vermittelt ihr ein Kommilitone die Adresse einer Engelmacherin.
Diese Abtreibung inszeniert Audrey Diwan in allen grässlichen Einzelheiten. „Wenn du schreist, breche ich sofort ab, die Wände hier im Haus sind dünn“, ist der einzige Kommentar der kaltherzigen Frau. Erst der zweite Versuch gelingt. Am Ende sitzt Anne schreiend auf der Toilette des Studentenheims, während ein rotes Etwas ins Klo plumpst. Sie ruft ihre beste Freundin zu Hilfe, damit diese mit einer Schere die Nabelschnur durchtrennt. (Ich habe das nur deshalb so ausführlich beschrieben, damit sich später niemand beschwert. Diese Szenen sind eine Tortur.)
DAS EREIGNIS stößt an unsere Grenzen. Ich kann verstehen, dass sich so mancher Kinofan dies nicht antun möchte. Gerade jetzt, wo in manchen Ländern und Gegenden Abtreibungsgegner wieder die Überhand gewinnen (Texas!), sind aber Filme wie dieser unverzichtbar. Frauen müssen zu allen Zeiten über ihr Leben selbstständig bestimmen dürfen!
Audrey Diwan hat ihren Film sehr realitätsnah und direkt inszeniert – mit hektischer Handkamera ist sie immer dicht bei den Personen. Sie hatte das Glück, mit der gebürtigen Rumänin Anamaria Vartolomei eine kongeniale Hauptdarstellerin zu finden, die auch die extremsten Szenen mit schonungsloser Offenheit spielte. Ein großer Film über eine unbeugsame, mutige Frau! Und über eine schreckliche Zeit!
L'événement (Frankreich 2021)
100 Minuten
Drama
Audrey Diwan
Audrey Diwan, Marcia Romano, basierend auf dem Roman "L'Événement" von Annie Ernaux
Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet-Klein, Luàna Bajrami, Louise Orry-Diquero, Louise Chevillotte, Pio Marmaï, Sandrine Bonnaire, Leonor Oberson
Prokino Filmverleih GmbH