Wieder einmal gelingt es Drehbuchautor und Regisseur Sean Baker, einen tiefgründigen Film in einer auf den ersten Blick oberflächlichen Welt zu inszenieren. Auch wenn die Geschichte der Stripperin ANORA wie eine moderne „Pretty Woman“-Version erscheint, hat Baker einiges mehr zu erzählen, als eine einfache Cinderella-Story…
Als Anora (Mikey Madison), eine selbstbewusste Stripperin aus New York, den jungen Oligarchen-Sohn Ivan (Mark Eydelstheyn) kennenlernt, glaubt sie, dass er vielleicht der Schlüssel zum Ausstieg sein könnte. Nach einigen anfänglichen Sex-Treffen bittet er sie schließlich, eine ganze Woche seine Freundin zu spielen – natürlich gegen Bezahlung. Was folgt, sind ausschweifende Partys, viel Alkohol und noch einiges mehr. Bei einem spontanen Trip nach Las Vegas heiraten die beiden in einer Übersprungshandlung. Das ruft jedoch nicht nur Ivans Eltern auf den Plan, die eilig aus Moskau in die Staaten fliegen, sondern die gesamte russische Community in New York. Die örtlichen Handlanger der Oligarchen setzen alles in Bewegung, um die Hochzeit zu annullieren – doch das entpuppt sich als gar nicht mal so einfach. Was folgt ist eine Odyssee durch den nächtlichen Big Apple, nachdem sich Ivan volltrunken aus dem Staub gemacht hat. Und Anora? Die wächst auf einmal völlig über sich hinaus…
Sean Baker hat sich schon immer für die Menschen abseits der Gesellschaft interessiert. Sei es eine abgehalfterte Schauspielerin in „Starlet“ (2012), eine Transgender-Prostituierte in „Tangerine“ (2015) oder mittellose Menschen in einem heruntergekommenen Motel am Rande von Disney World in „The Florida Project“ (2017). Immer wieder setzt Baker dabei auch auf Menschen, die dem portraitierten Millieu entstammen. So besetzte er in in seinem vorigen Film „Red Rocket“ (2021) die Hauptrolle mit einem echten ehemaligen Pornostar. Damit gelingt es ihm jedes Mal aufs Neue, seine Film zu erden und den Zuschauer zu überraschen.
In ANORA widmet er sich nun erneut dem Metier der Sexarbeiter:innen und legt uns eine Geschichte vor, die inhaltlich stark an „Pretty Woman“ erinnert. Und gleichzeitig auch wieder nicht, denn unterschiedlicher könnten die beiden Filme dann doch wieder nicht sein. Während der Film von Garry Marshall aus dem Jahre 1990 stark auf eine märchenhafte Erzählung mit Happy End setzt, führt uns Sean Baker immer wieder die Realität vor Augen.
Mit Mikey Madison hat Baker zudem die Idealbesetzung für die Titelrolle gefunden. Während einige sie vielleicht aus kleineren Rollen in „Scream“ (2022) oder „Once Upon a Time… in Hollywood“ (2019) kennen, zeigt Madison hier, dass sie problemlos einen ganzen Film tragen kann. Wie sie sich mit nahezu der gesamten russischen Gemeinde in New York anlegt, ist ein absolutes Fest. Von ihr werden wir in Zukunft sicher noch viel mehr hören und sehen.
Aber auch in Bezug auf den russischen Oligarchensohn Ivan überrascht Baker das Publikum, indem er ihn nicht als das typische Arschloch darstellt, wie in manchen anderen Filmen. Nein, er gibt ihm eine menschliche Seite, die man vielleicht nicht zwingend liebgewinnen muss, die ihm aber eine gewisse Bodenhaftung gibt.
Immer wieder führt Baker seine Figuren zudem in skurrile Situationen, bei denen einem schon das eine oder andere Mal das Lachen im Halse stecken bleibt. Aber als Zuschauer fiebert man in jeder Szene mit Mikey Madisons Anora mit, schließlich muss sie im Film jede Menge einstecken. Und während das in Filmen wie „Pretty Woman“ meist immer unter den Tisch gekehrt wird, um bloß das Happy End nicht zu beschmutzen, vergisst Baker das in seinem Film nicht. Im Gegenteil, wenn der Film in seiner allerletzten Szene nach all der Hektik in den vorhergehenden zwei Stunden zur Ruhe kommt, dann gibt er seiner Hauptfigur eine extrem entschleunigte Szene, die zugleich überrascht und versöhnt. Und genau damit hebt er seine Hauptfigur – und damit den gesamten Film – noch einmal ein Stückchen höher. So etwas kann eben nur ein Sean Baker und davor ziehe ich – erneut– meinen Hut.
Anora (USA 2024)
139 Minuten
Tragikomödie
Sean Baker
Sean Baker
Mikey Madison, Mark Eydelstheyn, Yura Borisov, Karren Karagulian, Vache Tovmayan
Universal Pictures International Germany GmbH