Der Film der Woche

Wie im echten Leben

30.06.2022

Für den Beruf des investigativen Journalisten und Schriftstellers kennen wir Deutsche vor allem einen Namen: Günter Wallraff. Unter falschem Namen hatte er sich mehrfach in Berufe eingeschmuggelt, um „undercover“ von Menschen zu berichten, die am unteren Ende der Gesellschaft leben müssen. Nach einer wahren Geschichte der Autorin Florence Aubenas hat der Regisseur Emmanuel Carrère das eindrucksvolle Melodram WIE IM ECHTEN LEBEN diese Ausgangslage aus französischer Sicht gedreht.

Die Initialzündung ging von Oscar-Preisträgerin Juliette Binoche aus, die Florence Aubenas so lange bekniete, bis diese ihr Okay gab. Dass der bislang eher als Schriftsteller bekannte Carrère auf dem Regiestuhl Platz nahm, war dabei eine Überraschung. Aber sein unverbrauchter, routinefreier Stil gab dem Ganzen letztendlich seine raue, naturalistische Aura. Dass Juliette Binoche in der Hauptrolle fast nur Laiendarstellerinnen an ihrer Seite hatte, tat sein Übriges.

Die renommierte Pariser Autorin Marianne (Binoche) reist in die nordfranzösische Hafenstadt Caen, um das erbarmungslose Leben der ausgebeuteten Arbeiterinnen von „ganz unten“ zu studieren. Mit falschem Lebenslauf bewirbt sie sich im überfüllten Jobcenter: Sie würde jede Arbeit übernehmen. Sie sei 23 Jahre lang Hausfrau gewesen, die ihrem Mann die Buchführung machte, der aber nun mit der Nachbarin durchgebrannt sei. Mit über 50 wolle sie nun einen Neuanfang wagen. Trotz fehlender Referenzen erhält sie einen Probejob als Reinigungskraft. Sie lernt, widerspenstige Wischmaschinen zu bedienen und den Umgang mit Lappen und Bürsten beim Säubern öffentlicher Toiletten. Doch beim ersten Fehler wird sie gnadenlos gefeuert.

In ihrem Hotelzimmer schreibt sie – völlig übermüdet – ihre Eindrücke des Tages in ihr Notebook. Ständig ist sie am Rande der totalen Erschöpfung. Wie lange kann sie dieses mörderische Leben durchhalten? Doch bei ihrer ersten Arbeit hatte sie sich mit einigen Frauen aus Caen angefreundet. Eine von ihnen vermittelt ihr einen Platz in der Putzkolonne auf der Autofähre, die jeden Abend vom Nachbarhafen Ouistreham (diesen französischen Ort gibt es wirklich!) Richtung Portsmouth den Ärmelkanal überquert. Für die Reinigung der 230 Kabinen haben die zwölf Frauen genau eineinhalb Stunden Zeit!

Bei all dem Stress freundet sich Marianne vor allem mit Christèle (Hélène Lambert) an, der alleinerziehenden Mutter von drei Söhnen. Doch von Tag zu Tag fällt es ihr immer schwerer, ihre Doppelexistenz geheimzuhalten. Sie weiß, diesen Verrat würden ihr ihre neuen Freundinnen nie verzeihen. Diesen Zwiespalt spielt Juliette Binoche mit schonungsloser Offenheit und ganz ohne Starallüren. Hier ist sie eine von vielen Gleichgesinnten. Aber dann läuft Marianne auf dem Schiff ein Bekannter aus Paris über den Weg…

Regisseur Emmanuel Carrère und sein Kameramann Patrick Blossier bebildern dieses Leben mit fast dokumentarischer Wucht. Die Ausbeutung der Frauen ist jeder Sekunde des Films auch für uns Zuschauer körperlich spürbar. Ihr einziges Gegenmittel: Solidarität und unverbrüchliche Freundschaft – bis es dann doch zum Bruch kommt. Erst mit ihrem fertigen Buch kehrt Marianne für einen Leseabend nach Caen zurück. Gibt es eine Versöhnung?

WIE IM ECHTEN LEBEN ist so ganz anders, als das, was wir in jüngster Zeit aus Frankreich zu sehen bekommen. Wer im Kino Entspannung sucht, sollte diesen Film meiden. Alle anderen sollten hingehen!

Trailer

ab6

Originaltitel

Quistreham (Frankreich 2021)

Länge

107 Minuten

Genre

Drama

Regie

Emmanuel Carrère

Drehbuch

Emmanuel Carrère, Hélène Devynck, frei nach dem Buch „Le Quai d‘Ouistreham“ von Florence Aubenas

Darsteller

Juliette Binoche, Hélène Lambert, Léa Carne, Emily Madeleine, Patricia Prieur, Evelyne Porée, Didier Pupin

Verleih

Neue Visionen Filmverleih GmbH

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