Der Film der Woche

The Quiet Girl

16.11.2023

Im vergangenen Jahr war er der erste Film in irischer Sprache, der eine Oscar-Nominierung als bester fremdsprachiger Film erhielt – jetzt kommt THE QUIET GIRL endlich auch in unsere Kinos. Warum man dieses zarte Meisterwerk keinesfalls verpassen sollte…

Wir schreiben das Jahr 1981: Die neunjährige Cáit (Catherine Clinch) ist schweigsam. Das liegt in erster Linie daran, dass sie in ihrer Familie so etwas wie Liebe oder Fürsorge nie wirklich erleben durfte. Jetzt steht die Geburt eines weiteren Kindes an und da Cáit da nur zur Last fallen würde, bringen ihre Eltern sie zu entfernten Verwandten aufs Land. Nur mit den Kleidern, die sie auf dem Leib trägt, zieht sie in das gepflegte Landhaus ein, zu dem eine Allee mit üppig-grünen Bäumen führt. Hier haben es Seán (Andrew Bennett) und Eibhlín Cinnsealach (Carrie Crowley) als hart arbeitende Farmer zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Wann und ob sie wieder zu ihrer Familie zurückkehren darf, weiß Cáit nicht, aber Eibhlín kümmert sich behutsam und liebevoll um das kleine Mädchen und gibt ihr Geborgenheit und Nähe. Zu Seán ist das Verhältnis anfangs noch etwas distanziert, trotzdem lässt er sich von Cáit bei der Arbeit mit den Tieren helfen. Langsam öffnet sich auch er dem jungen Mädchen und lässt sie dies durch kleine, liebenswerte Gesten spüren. In der Obhut ihrer neuen Pflegefamilie blüht Cáit langsam auf und entdeckt ein ganz neues Leben. Doch auch in diesem Haus herrscht eine Stille, die sich vom leisen aber andauerndem Schmerz seiner Bewohner nährt. Inmitten dieser kargen, schönen irischen Landschaft liegt ein Geheimnis verborgen, auf dessen Spuren sich Cáit mit neu gewonnenem Mut und Vertrauen begibt.

Manchmal gibt es Filme, die weigern sich mit allen Mitteln, von mir entdeckt zu werden. THE QUIET GIRL lief im Februar 2022 auf der Berlinale. Dort hatte sich der Film jedoch so sehr im Programm versteckt, dass er anfangs komplett an mir vorbeigegangen ist. Als ich durch Kollegen auf ihn aufmerksam wurde, war es leider zu spät – alle Vorführungen hatten bereits stattgefunden. Und so verschwand der Film für mich wieder in der Versenkung. Ein gutes Jahr später, kurz nach der diesjährigen Berlinale gab dann der Verleih Neue Visionen bekannt, dass man den Film im November in die deutschen Kinos bringen würde. Ein weiterer Sichtungsversuch beim Filmfest Emden-Norderney im Juni 2023 schlug dann ebenfalls fehlt, da bei meiner Ankunft am zweiten Festivaltag bereits beide Vorstellungen ausverkauft waren.

Als es dann im Oktober 2023 endlich die Pressevorführung zum Film gab, wuchs in mir die Befürchtung, dass sich meine Erwartungshaltung vielleicht unbewusst ins Unermessliche gesteigert hatte. Doch zum Glück war dem nicht so. THE QUIET GIRL ist wirklich so wunderschön, wie ich es mir besser nicht hätte ausmalen können.

Im Laufe meiner Zeit als Filmkritiker haben sich Coming-of-Age-Filme als so etwas wie mein Lieblings-Genre herausgestellt – schließlich geschehen in der Zeit des Heranwachsens so unfassbar viele Dinge, die die Weichen dafür legen, in welche Richtung sich ein Mensch entwickelt. Genau diesen wichtigen Aspekt zeigt Colm Bairéad in seinem Film überdeutlich. Was für ein Typ würde Cáit in ihrem späteren Leben werden, hätte sie nicht in diesem einen Sommer erleben dürfen, was Liebe und Zugewandheit bedeuten können.

Die Geschichte von THE QUIET GIRL basiert auf der Kurzgeschichte „Foster“ der irischen Schriftstellerin Claire Keegan. Der Drehbuchautor und Regisseur Colm Bairéad nahm diese Geschichte und änderte lediglich die Sprache. War Keegans Erzählung noch in englischer Sprache verfasst, sollte der Film in der irischen Sprache (gälisch) gedreht werden, schließlich ist Bairéad dieses extrem wichtig. Er ist zweisprachig aufgewachsen, wobei er mit seinem Vater ausschließlich irisch gesprochen hat. Auch seine bisherigen Kurzfilme sind in der Landessprache verfasst. THE QUIET GIRL ist sein Langfilmdebüt.

Warum THE QUIET GIRL so wunderbar ist, ist jedoch auch ein großer Verdienst der Hauptdarstellerin Catherine Clinch. Trotz ihres jungen Alters erlangt man als Zuschauer immer wieder den Eindruck, dass ihr zu jeder Zeit bewusst ist, wie ihre Figur in den einzelnen Szenen fühlt oder denkt. Ein solche emotionale Intelligenz ist besonders in diesem jungen Alter äußerst selten zu finden.

Trotzdem gibt es natürlich Dinge, die eine Neunjährige noch gar nicht erfassen kann – und damit kommen wir zu einem technischen Aspekt des Films: Bairéad wählte hier ein auf den ersten Blick recht seltsames Seitenverhältnis von 1,37:1, auch bekannt als sogenanntes „Academy Ratio“, da es 1930 durch die „Academy of Motion Picture Arts and Sciences“ festgelegt wurde. Für Bairéad war die Idee dahinter, dass das Sichtfeld von Cáit eingeengt ist durch all die Dinge, die sie noch nicht erfassen kann. Schließlich sehen wir die gesamte Handlung gefiltert durch den Blick der Neunjährigen.

Es ist erstaunlich, über wie viele Dinge sich Bairéad bei seinem Langfilmdebüt Gedanken gemacht hat. All diese kleinen Dinge, winzige Gesten wie ein Keks auf dem Küchentisch und die perfekte Kameraarbeit von Kate McCullough machen THE QUIET GIRL zu einem der zärtlichsten Filme, die es seit langem in den Kinos zu sehen gab. Ich kann es jedenfalls kaum erwarten, diese Perle erneut in einem Kinosaal zu bewundern.

Interview

In der irischen Botschaft in Berlin hatte ich die Gelegenheit, mich mit dem Drehbuchautor und Regisseur Colm Bairéad über seinen Film THE QUIET GIRL zu unterhalten, welcher als erster Film in irischer Sprache überhaupt eine Oscar®-Nominierung erhalten hat. Wir sprachen u.a. darüber, wie er auf die Kurzgeschichte der irischen Schriftstellerin Claire Keegan aufmerksam wurde, warum er den Film in einem unüblichen Seitenverhältnis gedreht hat, und wie es ihm gelungen ist, eine solch beeindruckende Hauptdarstellerin zu finden.

Trailer

Im Rahmen der Berichterstattung
ab12

Originaltitel

An Cailín Ciúin (Irland 2022)

Länge

96 Minuten

Genre

Drama

Regie

Colm Bairéad

Drehbuch

Colm Bairéad, basierend auf der Erzählung "Foster" von Claire Keegan

Darsteller

Catherine Clinch, Carrie Crowley, Andrew Bennett, Michael Patric, Kate Nic Chonaonaigh

Verleih

Neue Visionen Filmverleih GmbH

Filmwebsite

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