Es gibt Filme, die in ihrer wunderbaren Melancholie einfach so dahingleiten – scheinbar ohne große Höhepunkte. Hier heißt es für den Zuschauer: genau hinsehen und sich vom langsamen Rhythmus treiben lassen. So ein Film ist PASSAGIERE DER NACHT von Mikhaël Hers.
Die Nacht vom 10. Mai 1981: Ganz Paris ist auf den Straßen und feiert den historischen Wahlsieg François Mitterands zum Staatspräsidenten. Elisabeth (Charlotte Gainsbourg) ist gerade von ihrem Ehemann verlassen worden und lebt mit ihren Teeangerkindern Judith (Megan Northam) und Mathias (Quito Rayon-Richter) in einer anonymen Hochhaussiedlung – doch das Geld zum Leben reicht vorn und hinten nicht. Nachts lauscht Elisabeth der Late-Night-Radiosendung von Vanda Dorval (Emmanuelle Béart), die mit ihren Anrufern über Gott und die Welt plaudert. Irgendwann findet Elisabeth den Mut und bewirbt sich bei Vanda für einen Job. Sie darf in der Telefonzentrale die Anrufe entgegennehmen und die interessanten zu ihrer energischen Chefin durchstellen. Wenn dieser ein Zuhörer nicht gefällt, kann sie schon mal aufbrausend werden.
Gelegentlich werden auch Gäste ins Studio eingeladen. Dabei lernt Elisabeth die blutjunge Talulah (Noée Abita) kennen, die vor dem Mikrofon von ihrem armseligen Leben berichtet. Als Elisabeth am Morgen den Sender verlässt, sieht sie das Mädchen mit seinem Rucksack auf einer Parkbank sitzen, wo es auf das Öffnen der Cafés wartet. Talulah ist obdachlos! Generös bietet Elisabeth ihr an, erst einmal in ihrer Bodenkammer zu übernachten, eine Matratze ist vorhanden. Zum Duschen und Essen darf sie gern in die Wohnung kommen und dabei ihre Kinder kennenlernen. Talulah willigt dankend ein.
Eine Schlüsselszene: Das Mädchen überredet die Geschwister, zu dritt ins Kino zu gehen. Doch der sture Kassierer lässt sie nicht mehr rein, der Film habe schon angefangen. Und so schlägt Talulah frech vor, sich über den Notausgang in den Saal zu schleichen, ohne zu wissen, in welchem Film sie landen. Alle drei sind sofort elektrisiert: Es läuft „Vollmondnächte“ von Eric Rohmer – und wieder zu Hause reden sie immer noch über das gerade Gesehene. Mathias ist fasziniert von der geheimnisvollen Wilden, deren unglaubliche Spontanität alle mitreißt. Und irgendwann landen Talulah und Mathias im Bett – zu einer leidenschaftlichen Liebesnacht. Doch Talulah wird mit den neuen Gefühlen nicht fertig. Am nächsten Tag ist sie spurlos verschwunden. Erst vier Jahre später taucht sie wieder auf – als Drogenwrack…
Es ist bezeichnend, dass sich Regisseur Mikhaël Hers, der auch am Drehbuch beteiligt war, auf sein großes Vorbild Eric Rohmer bezieht. Dieser hatte in seinen eher unspektakulären Melodramen und Komödien die Poesie der Alltagssprache auf eine höhere Ebene gehoben und mit sehr viel Ironie versetzt. Hers verknüpft seine melancholische, meist nächtliche Reise mit grobkörnigen Archivaufnahmen aus dem Frankreich der 1980er-Jahre – einmal ist sogar der Nouvelle-Vague-Regisseur Jacques Rivette in der Metro zu sehen.
Charlotte Gainsbourg ist mal wieder eine Klasse für sich. Doch diesmal hat sie die unverbrauchte Noée Abita an ihrer Seite: ein Naturereignis! Wer sich auf diesen extrem ruhigen Film einlässt, wird reich belohnt.
Les passagers de la nuit (Frankreich 2022)
111 Minuten
Drama
Mikhaël Hers
Mikhaël Hers, Maud Ameline, Mariette Désert
Charlotte Gainsbourg, Quito Rayon-Richter, Noée Abita, Megan Northam, Thibault Vinçon, Emmanuelle Béart, Laurent Poitrenaux, Didier Sandre, Lilith Grasmug, Calixte Broisin-Doutaz, Eric Feldman, Ophélia Kolb
eksystent Filmverleih Kijas