Der Film der Woche

Mittagsstunde

22.09.2022

Mit der Verfilmung des gleichnamigen Romans MITTASSTUNDE von Dörte Hansen legt Regisseur Lars Jessen nicht weniger als ein kleines Meisterwerk vor, das auf ganzer Linie zu überzeugen weiss.

Ingwer Petersen (Charlie Hübner) ist 47 Jahre alt und Dozent an der Kieler Uni. Seinen Platz im Leben scheint er aber immer noch nicht so recht gefunden zu haben. Als seine „Olen“ nicht mehr so recht alleine zurechtkommen, kehrt er dem Stadtleben den Rücken zu und beschließt, in seinem Heimatdorf Brinkebüll ein Sabbatical zu verbringen. Doch den Ort seiner Kindheit erkennt er kaum wieder: kaum Menschen auf den Straßen, keine Dorfschule, kein Tante-Emma-Laden, auf den Feldern wächst nur noch Mais, und die alte Kastanie auf dem Dorfplatz gibt es auch nicht mehr. Ingwer stellt sich die Frage, wann dieser Niedergang begonnen hat. In den 1970er Jahren, als nach der Flurbereinigung aus den gewundenen Landstraßen begradigte Schnellstraßen wurden? Als die großen Höfe wuchsen und die kleinen mehr und mehr verschwanden? Oder als er zum Studium nach Kiel ging und seine Eltern mit dem Gasthof sitzen ließ?

Sönke Petersen (Peter Franke/Rainer Bock) hält hinterm Tresen des Dorfkrugs noch immer Stellung, während seine Frau Ella (Hildegard Schmahl/Gabriela Maria Schmeide) immer mehr ihren Verstand verliert. Beide lassen Ingwer spüren, dass er sich schon viel zu lange nicht um sie gekümmert hat. In kleinen Schritten gelingt ihnen die Wieder-Annäherung, doch er muss erkennen, dass er noch längst nicht alle Geheimnisse entblättert hat…

In MITTAGSSTUNDE führt uns der Regisseur Lars Jessen in die ländliche Welt Nordfrieslands. Wer so wie ich in den 1970er/1980er Jahren auf dem Land aufgewachsen ist (zwar in Niedersachen und nicht in Schleswig-Holstein), der dürfte sich in dieser Szenerie sofort heimatlich fühlen. Jessen fängt diese für Außenstehende unbekannte Welt nahezu perfekt ein. Dieser typische Menschenschlag, der vielleicht nicht viel redet, der sich aber kümmert, wenn es notwendig ist.

Charlie Hübner verkörpert Ingwer, der auch mit 47 Jahren noch nicht so recht weiß, wo sein Platz im Leben ist, mit absoluter Bravour. Ich könnte mir tatsächlich keinen besseren Darsteller für diese Rolle vorstellen. Aber auch Rainer Bock, der Ingwers Vater in den Rückblenden spielt, zeigt einmal mehr, wie unterschätzt er doch immer wieder wird. Man kennt ihn aus so vielen Nebenrollen, die große Hauptrolle war jedoch viel zu selten dabei. Dabei konnte Bock erst vor ein paar Jahren mit „Atlas“ zeigen, dass er problemlos einen ganzen Film tragen kann.

Lars Jessen nutzt den Film jedoch auch, um aufzuzeigen, wie sehr sich das Dorfleben in den letzten 50 Jahren verändert hat. Selten wurde die große Flurbereinigung in den 1970er Jahren einfacher und verständlicher erklärt als in MITTAGSSTUNDE. Waren die Dörfer früher noch Ortschaften der Begegnung, in denen man immer irgendwen auf der Straße antreffen konnte, haben sie sich im Laufe der Zeit mehr und mehr zu bequem mit dem Auto erreichbaren Schlafstätten für Zugezogene entwickelt. Doch dieser Prozess geschah so schleichend, dass viele diese Veränderungen gar nicht wahrgenommen haben. Und so könnte der Film vielleicht auch der Beginn einer neuen Diskussion darüber werden, wie wir eigentlich leben wollen.

Gedreht wurde MITTAGSSTUNDE gleich in zwei Fassungen, einer hochdeutschen und einer plattdeutschen. „Bei einem Roman, der 770.000 Mal verkauft wurde, versucht man natürlich in erster Linie ein gesamtdeutsches Publikum zu erreichen“, so Jessen im Interview mit nochnfilm.de. Kurz vor Drehbeginn entschied er sich dann, auch immer eine plattdeutsche Variante zu drehen – quasi die „werktreue“ Fassung mit Untertiteln. Beim Dreh entpuppte sich das aber dann als Trick, „um beim Spielen mehr vom Kopf in den Bauch zu kommen“, wie Jessen anmerkte. Interessanterweise haben bereits Kinos in Bayern verlauten lassen, lieber die plattdeutsche Version mit Untertiteln zeigen zu wollen. Wer weiß, vielleicht wird MITTAGSSTUNDE ja zum Gegenentwurf der Eberhofer-Krimis, die inzwischen in ganz Deutschland Gefallen finden.

Problematisch bei einem plattdeutschen Film ist aber natürlich, dass sich der Dialekt oftmals schon von Dorf zu Dorf unterscheidet. Wie sollte man also dafür sorgen, dass hier auch „das richtige Plattdeutsch“ gesprochen wird? Dafür hat sich das Team voll und ganz auf die Autorin Dörte Hansen verlassen. Diese nahm sämtliche Dialoge vorab auf Audio auf, und so konnten die Darsteller kurz vor ihrem Take noch einmal reinhören und sicherstellen, dass immer das nordfriesische Platt von Dörte Hansen ausschlaggebend war.

Wenn ein Roman verfilmt wird, stellt sich immer die Frage, wie werkgetreu die Umsetzung sein kann. Das Medium Film funktioniert nun mal anders als ein Buch. Bei der MITTAGSSTUNDE bestand zudem das Problem, dass es hier keine Dramaturgie im klassischen Sinne gibt, also eine sogenannte „Hero’s Journey“. Dieses Problem haben Jessen und seine Drehbuchautorin Catharina Junk insofern gelöst, als dass sie der Figur des Ingwer Petersen wesentlich mehr Raum gegeben haben. Das scheint ihnen durchaus gelungen zu sein, denn bei der Preview Hamburg im Abaton-Kino ließen beim anschließenden Q&A viele Zuschauer erkennen, dass für sie der Film sehr nahe am Buch liegen würde.

Mit MITTAGSSTUNDE ist Lars Jessen, der selbst in Dithmarschen und Kiel aufgewachsen ist, ein ganz persönlicher Film gelungen. Eine wunderschöne Ode an das flache Land im Norden und deren Menschen, bei denen „Moin Moin“ bereits als Gesabbel gilt – und ein Film, der uns Zuschauer mit einem wohligen Gefühl den Kinosaal verlassen lässt. Bravo!

Interview

Während der Preview des Films im Hamburger Abaton-Kino hatte ich die Gelegenheit, mit dem Regisseur Lars Jessen über seinen Film zu sprechen:

Trailer

ab12

Originaltitel

Mittagsstunde (Deutschland 2022)

Länge

97 Minuten

Genre

Drama

Regie

Lars Jessen

Drehbuch

Catharina Junk, nach dem Roman von Dörte Hansen

Darsteller

Charly Hübner, Peter Franke, Hildegard Schmahl, Rainer Bock, Gabriela Maria Schmeide, Gro Swantje Kohlhof, Lennard Conrad, Julika Jenkins, Nicki von Tempelhoff, Jan Georg SchüLe

Verleih

Majestic Filmverleih GmbH

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