Der Film der Woche

Drive My Car

23.12.2021

Dieser Film ist ein Phänomen. Die zugrunde liegende Erzählung des japanischen Starautors Haruki Murakami, seit Jahren immer wieder Nobelpreis-Kandidat, ist gerade mal 20 Seiten lang. Der japanische Regisseur Ryusuke Hamaguchi machte mit DRIVE MY CAR daraus einen sensationellen Film, der unglaubliche 179 Minuten (!) dauert. So entstehen Wunder! 

Wie will man seinen Lesern einen Film dieser Länge schmackhaft machen, ohne dass sie im Kinosessel die Lust verlieren? Denn es passiert während der drei Stunden herzlich wenig. Immerhin: New Yorker Filmkritiker haben DRIVE MY CAR vor kurzem zum „Film des Jahres“ erkoren – und beim Festival von Cannes erhielt er den Preis für das beste Drehbuch. Doch diese Vorschusslorbeeren muss der Film erst einmal bestätigen. Er tut es!

Ohne den Begriff „Gesamtkunstwerk“ überzustrapazieren – seit Richard Wagner hat das Wort einen schlechten Ruf -, hier passt er genau. Der japanische Regisseur Ryusuke Hamaguchi vereint in DRIVE MY CAR Prosa, Theater, Musik und Kino auf einzigartige Weise. Hier sind (fast) alle Künste vertreten – auch die „Kunst des Fahrens“.

Fast wie ein klassisches Shakespeare-Drama ist DRIVE MY CAR aufgeteilt – nicht in fünf Akte – sondern in: Ouvertüre, Hauptteil und (kurzem) Epilog. Schon vor den „Titeln“ (siehe James Bond!) erleben wir eine Geschichte in der Geschichte. Der Theaterregisseur Yusuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) hat ein erfülltes Sexleben mit seiner Frau Oto (Reika Kirishima). Nach dem Liebesakt erzählt sie ihm eine wilde, fantastische Story, die er am nächsten Tag aufschreibt und verkauft. So ist sie inzwischen eine erfolgreiche Drehbuchautorin. Als er nach einem verschobenen Auslandsaufenthalt zu früh nach Hause kommt, erwischt er sie beim Sex mit einem Fremden. Doch vor der entscheidenden Aussprache stirbt sie an einem Aneurysma.

Zwei Jahre später: Yusuke erhält den Auftrag, in Hiroshima ein Theaterseminar zu leiten, wo Anton Tschechows „Onkel Wanja“ aufgeführt werden soll. Seine Idee, in mehreren Sprachen zu inszenieren, hat die Verantwortlichen überzeugt. Die Bewerber kommen aus Japan, Thailand, den Philippinen, Taiwan und China. Und für die Rolle der Sonja „spricht“ ein Taubstumme vor. In einem der Bewerber erkennt Yusuke den Ex-Liebhaber seiner Frau. Kann das gut gehen?

Aus versicherungstechnischen Gründen verlangen die Veranstalter, dass Yusuke seinen 15 Jahre alten Saab nicht selbst fährt. Ihm wird die 23-jährige Misaki Watari (Toko Miura) zugeteilt („Drive my car“). Auf der einstündigen Fahrt zu seinem wunderschön gelegenen Hotel auf einer kleinen Insel und morgens zurück zum Probenraum in Hiroshima lernen sich die beiden Eigenbrötler näher kennen. Auch Misaki hat ein Familiengeheimnis.

Die Dialoge dieser beiden so unterschiedlichen Charaktere bei den langen Autofahrten sind das Herzstück dieses bewegenden Melodrams. Wie sich die beiden sturen Individuen langsam einander öffnen, ist eine Offenbarung. So viel Menschlichkeit ist eher selten im aktuellen Kino. Sie will nur fahren, er denkt nur ans Theater! Als der vermeintliche Ex-Liebhaber auf offener Bühne wegen Körperverletzung mit Todesfolge verhaftet wird, ist die Premiere geplatzt. Yusuke will nicht mehr Wanja spielen. Doch er überredet Misaki, mit ihr zwei Tage lang in ihr Heimatdorf auf Hokkaido zu fahren, wo ihre Mutter bei einer Schlammlawine gestorben ist. Diese Fahrt durch (fast) ganz Japan dauert scheinbar endlos (einschließlich Autofähre)!

Am Ende spielt Yusuke doch noch einmal die Titelrolle von „Onkel Wanja“. Und Misaki sitzt im Publikum. Das könnte das Ende des wunderbaren Films sein. Doch der Regisseur gönnt uns einen verblüffenden Epilog (siehe oben). Jahre später – wir sind mitten in der Corona-Epidemie – steigt Misaki nach einem Supermarkt-Einkauf in den uns allen bekannten Saab und biegt in den Verkehr ein: Rechtsverkehr! (In Japan fährt man links!)

Ich muss zugeben: Seit Langem hat mich ein Regisseur nicht mehr so verblüfft wie Ryusuke Hamaguchi mit seiner unglaublichen Schlusspointe. Und ich habe den Gag nicht verstanden. Sorry! Der faszinierend ruhig erzählte Film braucht unsere Muße. Hektisch veranlagte Menschen werden schon nach wenigen Minuten den Kinosaal verlassen. Doch die anderen werden reich belohnt. Auch in Zeiten von James Bond und Marvel gibt es noch das meditative, stille Kino, wo ein Satz ein ganzes Leben erzählt. Visuell ist DRIVE MY CAR eher unscheinbar. Doch als „Gesamtkunstwerk“ ein Film des Jahrzehnts!

Trailer

ab12

Originaltitel

Drive My Car (Japan 2021)

Länge

179 Minuten

Genre

Drama

Regie

Ryusuke Hamaguchi

Drehbuch

Ryusuke Hamaguchi, Oe Takamasa

Darsteller

Hidetoshi Nishijima, Toko Miura, Masaki Okada, Reika Kirishima, Park Yurim, Jin Daeyeon

Verleih

Rapid Eye Movies HE GmbH

Filmwebsite

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