Die Verachtung

08.06.2023

Jean-Luc Godard, der französische Altmeister des Avantgarde-Kinos und wichtigster Vertreter der sogenannten „Nouvelle Vague“ in den 1960er-Jahren, starb im vergangenen September im Alter von 91 Jahren. Bei den gerade zu Ende gegangenen Filmfestspielen von Cannes wurde eines seiner frühen Meisterwerke, DIE VERACHTUNG (1963), in einer brillant restaurierten Fassung wiederaufgeführt. Diese Version ist jetzt in ausgewählten heimischen Kinos zu bewundern. Ein cineastischer Traum in Blau, Rot, Gelb und Weiß!

Der Film basiert lose auf dem gleichnamigen Roman von Alberto Moravia. Doch Godard hatte bei seiner vertrackten Umsetzung anderes im Sinn: eine Abrechnung mit dem von einflussreichen Produzenten geprägten Hollywood-System und eine offensichtliche Verteuflung des Star-Kults im Kino. Denn warum spielt ausgerechnet Brigitte Bardot die weibliche Hauptrolle – damals eine der berühmtesten Filmschauspielerinnen der Welt?

Der französische, bislang nur als Krimiautor tätige Schriftsteller Paul Javal (Michel Piccoli) reist mit seiner Frau Camille (Brigitte Bardot) nach Rom, um in Cinecittà einem Drehbuch über die Odyssee den letzten Schliff zu geben. US-Produzent Jeremy Prokosch (Jack Palance) ist mit den bisherigen Dreharbeiten von Regisseur Fritz Lang (er spielt hier sich selbst) nicht zufrieden – und macht aus seiner Ablehnung und Arroganz keinen Hehl. Dazwischen tummelt sich die Dolmetscherin Francesca (Giorgia Moll), die alles übersetzen muss. Denn die geniale Pointe des Films ist: Prokosch spricht nur englisch, Paul und Camille sprechen nur französisch – nur der Kosmopolit Fritz Lang kommuniziert auf Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch. Dabei gibt es die bizarre Situation, dass er den deutschen Dichter B.B. (Bertolt Brecht) zitiert und B.B. hinter ihm steht. Was für ein meisterlicher Gag!

Prokosch überredet die schöne Camille, mit ihm zu seiner Villa zu fahren – leider ist im Alfa Romeo nur Platz für zwei Personen. Also muss der frustrierte Paul mit dem Taxi hinterherfahren. Nach der feuchtfröhlichen Party zeigen sich beim Ehepaar Paul und Camille in ihrer halbfertigen römischen Eigentumswohnung die ersten Risse. Camille ist sauer, dass Paul unübersehbar seine Frau dem Produzenten anbietet – und sie lässt ihn ihre grenzenlose Verachtung spüren. In einem surrealistischen, extrem theatralischen und urkomischen Mittelakt zeigt uns Godard seine „Szenen einer Ehe“. Paul sitzt sogar mit Hut in der Badewanne und parodiert Dean Martin aus „Some Came Running“. Camille räkelt sich derweil nackt auf dem Sofa.

Im letzten Akt treffen sich alle in einer modernistischen Villa auf Capri, die einst der Schriftsteller Curzio Malaparte spektakulär auf einem Felsvorsprung errichten ließ. Hier dreht Fritz Lang noch einige Szenen, unter anderem mit der nackt badenden Nausikaa. (Der Regieassistent wird übrigens von Godard selbst gespielt.) Doch die Risse im Team sind nicht mehr zu kitten…

In der letzten Szene steht Odysseus auf der Klippe und blickt in Richtung Ithaka. Dann folgt der Schwenk auf das strahlend blaue Mittelmeer. Das rote Kleid von Camille, der gelbe Bademantel von Francesca, das Weiß in der römischen Wohnung und in der Villa und das Blau des Meeres – Godards Meisterwerk ist auch eine Hommage an die Primärfarben. Hier hat sich ein begnadeter Regisseur Gedanken über die Zukunft des Kinos gemacht. Und bis kurz vor seinem Tod hat er noch einen Film nach dem anderen gedreht. Doch sein Spätwerk wollte kaum noch jemand sehen. Sehr traurig!

Trailer

ab12

Originaltitel

Le Mépris (Frankreich 1963)

Länge

99 Minuten

Genre

Drama

Regie

Jean-Luc Godard

Drehbuch

Jean-Luc Godard

Darsteller

Brigitte Bardot, Jack Palance, Michel Piccoli, Giorgia Moll

Verleih

Studiocanal GmbH

Filmwebsite

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