Chuck Chuck Baby

26.12.2024

Die Autorin und Regisseurin Janis Pugh wollte ein Denkmal setzen für all die Frauen in Wales, die ihre Familien mit schlecht bezahlten Jobs über Wasser halten – und schuf mit dem Lesbian-Chicken-Factory-Musical (Zitat der Hauptdarstellerin Louise Brealey) CHUCK CHUCK BABY so viel mehr: einen kleinen, aber äußerst feinen Film, der sein Herz immer am rechten Fleck hat.

Helen (Louise Brealey) verbringt ihre Nächte damit, Hühnchen am Fließband zu verpacken, während sie sich tagsüber um ihre sterbenskranke Schwiegermutter Gwen (Sorcha Cusack) kümmert. Ihr Mann Gary (Celyn Jones) hat derweil ein Kind mit seiner neuen, wesentlich jüngeren aber umso einfältigeren Freundin, während die Enddreissigerin in einem winzigen Zimmer des kleinen Hauses lebt. Das alles ändert sich, als Joanne (Annabel Scholey) plötzlich in die walisische Kleinstadt zurückkehrt, um das Haus ihres verstorbenen Vaters leer zu räumen. Vor mehr als 20 Jahren waren beide die unausgesprochene heimliche Leidenschaft des jeweils anderen, und sofort ist spürbar, dass da immer noch ein Feuer zwischen ihnen lodert. Eines Nachts lernen sich die beiden neu kennen und lassen sich auf einen Flirt ein, der die jugendlichen Gefühle wieder entfacht. Als sich die beiden wieder ineinander verlieben, kehrt Helens Lebensfreude zurück, doch Joanne spürt, wie sich die Mauern um sie herum schließen, als sie mit etwas viel Dunklerem aus ihrer Vergangenheit konfrontiert wird. Als Gwen plötzlich stirbt und Joanne aufgrund der schmerzhaften Erinnerungen die Flucht ergriffen hat, bricht für Helen eine Welt zusammen. Voneinander getrennt und allein – werden die beiden Frauen den Mut finden, die Grenzen zu durchbrechen und zueinander finden?

Die Drehbuchautorin und Regisseurin Janis Pugh muss man erleben: „Chose Love“ steht in großen Lettern auf ihrem Shirt, als sie CHUCK CHUCK BABY im Oktober beim Hamburg Queer Film Festival im ausverkauften großen Saal des altehrwürdigen Passage-Kinos vorstellt. Genervt vom Brexit und all den Populisten ruft sie das Publikum auf, im Zweifel immer für die Liebe zu kämpfen – und das Publikum antwortet mit einem minutenlangen Applaus und starken Fragen in der anschließenden Fragerunde.

Doch die Erfolgsgeschichte von CHUCK CHUCK BABY geht noch etwas weiter zurück: Vor anderthalb Jahren (im August 2023) feierte der Film seine Weltpremiere beim Edinburgh International Film Festival und überzeugte bereits dort das Publikum. Dort ist auch mein Interview mit Pugh (übrigens weder verwandt noch verschwägert mit der Schauspielerin Florence Pugh) und den beiden Hauptdarstellerinnen Louise Brealey und Annabel Schooley entstanden (siehe unten), bei dem alle eine Menge Spaß hatten. Selten hatte ich das Privileg, mit solch wunderbar herzlichen Menschen sprechen zu dürfen. Am gleichen Abend standen dann ganz viele Frauen in ihren blauen Overalls auf dem roten Teppich und wurden von den anwesenden Gästen gefeiert. Was für ein Anblick!

Ich durfte beim Film Festival in Edinburgh bereits viele wunderbar krude Genre-Mischungen sehen, wie beispielsweise das Weihnachts-Zombie-Musical „Anna and the Apocalypse„. Dieses Mal nun ein „Lesbian-Chicken-Factory-Musical“, wie es Louise Brealey in unserem Interview so passend zusammengefasst hat. Und ja, der Film mag auf den ersten Blick nicht mit großen Hollywood-Produktionen mithalten, aber das sollte kein Kritikpunkt sein. Für mich war es wichtig, dass der Film stets sein Herz am rechten Fleck hat. Die Liebe, die Pugh ihren Figuren entgegenbringt, ist in jeder einzelnen Szene spürbar. Und (nochmal) ja, wer ein typisches Musical erwartet, der dürfte erst einmal überrascht sein, denn die Figuren interpretieren die Songs nicht, sie singen einfach über den Song hinweg. Das mag für einige befremdlich wirken, ist aber zum einen sicherlich budgetbedingt entstanden, zum anderen macht es den Film irgendwie noch ein wenig menschlicher, als er eh schon ist.

Mit Louise Brealey („Sherlock“) und Annabel Scholey („Walking on Sunshine“) hat Janis Pugh ihren Film mit zwei großartigen Schauspielerinnen besetzt, deren Chemie und Darstellung die Botschaft wunderbar unterstreicht. Brealey gelingt es, das mangelnde Selbstbewusstsein ihrer Figur durch unbeholfene Gesten, ihre müde Resignation oder ihre Schüchternheit darzustellen, während es Scholey schafft, durch ihre anfangs sehr reduzierte Mimik die harte Fassade aufrechtzuerhalten, bis irgendwann klar wird, wie sehr auch sie innerlich verletzt ist.

Für Louise Brealey war bereits beim Lesen des Drehbuchs klar, dass sie diesen Film unbedingt machen möchte. „Endlich stellt jemand zwei Frauen in den Mittelpunkt, die nicht mehr in ihren Zwanzigern sind“, so Brealey, „das geschieht immer noch viel zu selten in der Branche“. Ich kann ihr dabei nur zustimmen, auch ich würde gerne viel mehr solcher Filme sehen.

Wann immer den Figuren die Worte fehlen, greift die Regisseurin Janis Pugh auf die Musik zurück – schließlich haben schon viele große Interpreten wie Neil Young darüber gesungen, was die Figuren hier im Film nicht sagen können. So bricht Pugh mit den Mitteln des Musicals die Schwere der Lebensbedingungen der Protagonisten. Und die nicht komplett durch choreografierten Tanzszenen unterstreichen, dass im Leben dieser Frauen eben nicht alles perfekt ist, sie aber trotzdem die Freundschaft und den Zusammenhalt feiern.

Auch die Bilder der Kamerafrau Sarah Cunningham unterstreichen diese Botschaft. Sie konterkariert die triste Kulisse der etwas heruntergekommenen Reihenhaus-Siedlung mit einer warmen, fast schon bunten Kulisse voller Lebensfreude. Egal wie farblos die sich immer wiederholenden täglichen Abläufe auch sind, diese Frauen sind füreinander da. Ohne wenn und aber.

CHUCK CHUCK BABY ist ein wunderschönes Kleinod, dass es zu entdecken gilt. Eine starkes Loblied auf weibliche Freundschaft, zweite Chancen und die Liebe unter widrigen Umständen.

Interview

Beim Edinburgh International Film Festival, wo CHUCK CHUCK BABY seine Weltpremiere gefeiert hat, durfte ich mich mit der Regisseurin Janis Pugh sowie den beiden Hauptdarstellerinnen Annabel Scholey und Louise Braely über ihr „Lesbian-Chicken-Factory-Musical“ unterhalten, wie Louise Brealey den Film im Interview bezeichnet.

Trailer

Im Rahmen der Berichterstattung
ab12

Originaltitel

Chuck Chuck Baby (Großbritannien 2024)

Länge

102 Minuten

Genre

Drama / Komödie / Romanze / Musical

Regie

Janis Pugh

Drehbuch

Janis Pugh

Kamera / Director of Photography (DOP)

Sarah Cunningham

Darsteller

Louise Brealey, Annabel Scholey, Sorcha Cusack, Celyn Jones

Filmwebsite

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