Die leisen und die großen Töne

26.12.2024

Melodramen über das Thema „klassische Musik“ haben es in der heutigen Kinolandschaft schwer. Wohl deshalb wird es dem französischen Film DIE LEISEN UND DIE GROßEN TÖNE (im Original: „En fanfare“) von Emmanuel Courcol auf den Leinwänden auch nicht leicht gemacht werden. Das ist schade!

Auch die Halbwegs-Erfolge von „Tár“ mit Cate Blanchett und „Maestro“ von und mit Bradley Cooper können nicht darüber hinwegtäuschen: Für viele ist diese Art der Musik immer noch – oder schon wieder – ein Fremdkörper. Indiz dafür: In den vielen TV-Quizsendungen, die uns zurzeit überschwemmen, wird bei der Kategorie „klassische Musik“ meist sofort abgewinkt. Doch wir dürfen auch nicht vergessen, dass Mozarts Werke zu seinen Lebzeiten zur „Unterhaltungsmusik“ gezählt wurden.

Das mag als Exkurs reichen! In DIE LEISEN UND DIE GROßEN TÖNE geht es um einen gefeierten Dirigenten, der mit einer schrecklichen Diagnose konfrontiert wird. Thibaut Desormeaux (Benjamin Lavernhe) probt mit seinem Orchester die „Egmont“-Ouvertüre von Beethoven, als er plötzlich am Pult zusammenbricht. Er hat Leukämie und benötigt dringend eine Knochenmarkspende. Seine Mutter und seine Schwester sind ihm dabei keine Hilfe: Erst jetzt als Enddreißiger muss er erfahren, dass er als Kind adoptiert wurde.

Nach aufreibenden Behördengängen erfährt er, dass er einen jüngeren Bruder hat, Jimmy Lecoq (Pierre Lottin). Der lebt in einer nordfranzösischen Arbeiterstadt, verdingt sich als Koch in einer Schulküche und spielt Posaune in einer Blaskapelle, die vom größten Arbeitnehmer der Stadt gesponsert wird. Doch just diese Fabrik wird zurzeit bestreikt.

Da dämmert manchen von uns doch was? In einem der besten britischen Filme der 1990er-Jahre, „Brassed Off – Mit Pauken und Trompeten“ (1996) von Mark Herman mit Ewan McGregor, Tara Fitzgerald und Pete Postlethwaite, ging es um eine bestreikte nordenglische Kohlenzeche und eine ihr angegliederte Blaskapelle, die an einem Bandwettbewerb in der Londoner Royal Albert Hall teilnimmt. Natürlich nahm sind Regisseur Emmanuel Courcol dieses Meisterwerk zum Vorbild. Warum auch nicht?


Zurück zu DIE LEISEN UND DIE GROßEN TÖNE: Thibaut besucht Jimmy und bittet ihn um diesen einen großen Gefallen einer Knochenmarkspende. Doch die Annäherung beginnt eher quälend: Die beiden Brüder könnten nicht unterschiedlicher sein. Aber dann entdeckt Thibaut Jimmys musikalisches Talent und bewundert dessen absolutes Gehör. Am Ende gibt Jimmy die Spende, und Thibaut springt als Ersatzdirigent der Blaskapelle ein, die für einen Wettbewerb probt – mit Verdis „Triumphmarsch“ aus „Aida“.

Mit einfühlsamem Regiestil gelingt es dem Regisseur, in die Psyche der beiden Brüder einzudringen. Man spürt, wie sich die beiden Männer allmählich einander öffnen. Hier prallen zwei total gegensätzliche Lebensentwürfe aufeinander: der spießige Provinzler und der weltmännische, begnadete Künstler. Diese nur scheinbar unterschiedlichen Daseinsformen werden bei der Uraufführung von Thibauts neuestem Stück – er ist nebenbei auch Avantgarde-Komponist -, besonders deutlich. Lasst euch überraschen! Taschentücher bitte griffbereit halten!

Mit diesem meisterlichen und wunderbar subtilen Melodram hat es Emmanuel Courcol verstanden, uns die Welt der Musik näher zu bringen. Und er bietet ein breites Spektrum: von der Klassik bis zur Avantgarde, von der klassischen Moderne (Ravel!) bis zum Jazz, von der populären Blasmusik bis zur Folklore. Zudem nimmt man dem Schauspieler Benjamin Lavernhe zu jeder Sekunde den Dirigenten ab – mit all seinen eleganten Handbewegungen. Wer nach diesem überwältigenden Film seinen Musikgeschmack nicht noch einmal überdenkt, ist selbst schuld.

Trailer

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Originaltitel

En Fanfare (Frankreich 2024)

Länge

104 Minuten

Genre

Drama / Komödie

Regie

Emmanuel Courcol

Drehbuch

Emmanuel Courcol, Irène Muscari

Kamera / Director of Photography (DOP)

Maxence Lemonnier

Darsteller

Benjamin Lavernhe, Pierre Lottin, Sarah Suco, Jacques Bonnaffé, Clémence Massart, Anne Loiret, Mathilde Courcol-Rozès, Yvon Martin, Isabelle Zanotti, Nicolas Ducron, Charlie Nelson, Marie-Jo Billet, Antonin Lartaud, Rémi Fransot, Johnny Montreuil, Johnny Rasse, Gabrielle Claeys

Verleih

Neue Visionen Filmverleih GmbH

Filmwebsite

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