Caught By the Tides

15.05.2025

Wie fühlt man sich, wenn man einen aktuellen Film anschaut und dabei glaubt, eine minutenlange Szenenfolge vor Jahren schon mal im Kino gesehen zu haben? Das nennt man wohl ein Déjà-vu! Mir so geschehen bei der Sichtung des Beziehungsdramas CAUGHT BY THE TIDES von Jia Zhang-Ke.

Des Rätsels Lösung: Der chinesische Starregisseur (Goldener Löwe 2006 für „Still Life“) hat in seinem neuen Werk (dt.: „Von den Gezeiten gefangen“) Material aus seinen früheren Filmen „Platform“ (2000) und „Still Life“ verwendet – und vor allem an letzteren kann ich mich noch gut erinnern. In allen drei Filmen spielt Zhao Tao, Jia Zhang-Kes Ehefrau, die weibliche Hauptrolle. So ist CAUGHT BY THE TIDES quasi ein Langzeitprojekt, ähnlich wie „Boyhood“ von Richard Linklater.

Doch dieses Vorwissen macht es dem Zuschauer nicht einfacher, den extrem kompliziert strukturierten Film zu begreifen. Ich kann verstehen, dass so mancher Kinogänger schon nach wenigen Minuten verzweifelt den Saal verlässt – nach dem Motto: „Was soll der Sch***?“ Denn die beiden Hauptpersonen schälen sich erst allmählich aus dem Chaos der Handlung heraus. Im Endeffekt geht es um eine On/Off-Beziehung eines Paares über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren.

Der Film beginnt im Jahr 2001 in der heruntergekommenen Provinzstadt Datong. In dieser trostlosen Atmosphäre – viele Minenarbeiter sind entlassen worden – greifen die Frauen einen westlichen Lebensstil auf: Mit Modenschauen auf offener Straße und Gesangsproben hoffen sie, im wieder eröffneten Kulturpalast auftreten zu dürfen, um ein bisschen Geld dazuzuverdienen. Bei einer Tanzveranstaltung lernen sich die Animierdame Qiaoqiao (Zhao Tao) und der Arbeiter Guo Bin (Li Zhubin) kennen.

Von Anfang an steht die emotional unausgeglichene Beziehung unter keinem guten Stern. In einer der Schlüsselszenen will sie ihn endgültig verlassen, doch er schubst sie wieder und wieder auf die Sitzbank zurück. Guo Bin beschließt, sein Glück auf den Baustellen der Drei-Schluchten-Talsperre am Jangtsekiang zu suchen. Die Trennung teilt er ihr in einer lieblosen SMS mit: „Wenn ich Erfolg habe, kannst du ja in ein paar Jahren nachkommen.“ Fünf Jahre später wagt Qiaoqiao diesen Schritt: Nach langer Zugfahrt und Schiffsreise am Ziel angekommen, reagiert Guo Bin weder auf ihre Anrufe noch auf ihre SMS. Erst als sie ihn übers Fernsehen suchen lässt, ist er zu einem Treffen bereit. Diese entscheidende Szene inszeniert Jia Zhang-Ke komplett stumm: Nur die Zwischentitel (wie im Stummfilm) verraten das endgültige Aus.

Erst 2022 – mitten in der Corona-Pandemie – sehen sie sich zufällig wieder. Beide sind als gebrochene Menschen in ihre Heimatstadt Datong zurückgekehrt und müssen sich mit den strengen staatlichen Regeln abfinden. In einer der bizarrsten Szenen kommuniziert Qiaoqiao im Supermarkt nonverbal mit einem redseligen Kaufhaus-Roboter. Was manchem Zuschauer möglicherweise bislang entgangen ist: Qiaoqiao hat bis zu diesem Zeitpunkt im Film kein einziges Wort gesagt – und wird es bis zum Ende auch nicht tun.

Der schwerkranke Guo Bin ergreift bei der Begegnung noch einmal das Wort – doch Qiaoqiao dreht sich einfach um und verschwindet in einer Gruppe abendlicher Jogger. Mit einem Schrei!

Was auf den ersten Blick wie eine klare, einfache Geschichte erscheint, ist in Wahrheit genau das Gegenteil. Denn der Regisseur verzahnt dieses intime, fast wortlose Beziehungs-Kammerspiel mit der Hektik um die beiden herum. Alle Nebenfiguren brabbeln sich mit banalen Dialogen um Kopf und Kragen, und wir werden ständig von überlauten Schlagern und Rockmusik beschallt. Diesen Kontrast müssen wir erst einmal akzeptieren. In einer denkwürdigen Szene erleben wir einen durchgeknallten TikTok-Fan, wie er den unsäglichen deutschen Hit „Dschingis Khan“ auf Chinesisch zelebriert.

CAUGHT BY THE TIDES ist in seiner chaotischen Collage eher das „Fragment eines Films“, ein avantgardistisches Experiment. Gleichzeitig aber auch eine Art Werkschau von Jia Zhang-Ke – und das ungeschminkte Porträt der Volksrepublik China, wie sie sich in den vergangenen 25 Jahren verändert hat.

In seiner Machart wohl einer der radikalsten Filme dieses Jahres!

Trailer

ab12

Originaltitel

Caught By the Tides (China 2024)

Länge

111 Minuten

Genre

Drama

Regie

Jia Zhang-Ke

Drehbuch

Jia Zhang-Ke, Wan Jiahuan

Kamera / Director of Photography (DOP)

Yu Lik-Wai, Eric Gautier (AFC)

Darsteller

Zhao-Tao, Li Zhubin, Pan Jianlin, Lan Zhou, Zhou You, Ren Ke, Mao Tao

Verleih

Rapid Eye Movies HE GmbH

Filmwebsite

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