Die Hitzewelle in Marseille hat mit 46 Grad einen absoluten Höhepunkt erreicht! Drei Freundinnen haben genug: Von den Temperaturen, die kaum auszuhalten sind. Aber auch davon, wie sie von Männern behandelt werden. Der französische Schauspielstar Noémie Merlant („Porträt einer jungen Frau in Flammen“) liefert mit ihrer zweiten Regiearbeit BALCONETTES eine wilde Melange aus schwarzer Komödie und Splatter-Horror.
Die Eröffnungsszene ist fast schon genial: Bildgestalterin Evgenia Alexandrova lässt in BALCONETTES die schwebende Kamera sanft an den Wänden und Balkonen eines Wohnkomplexes in Marseille entlang gleiten. Die flirrende Hitze ist fast spürbar, die Menschen versuchen ihr zu trotzen. Auf einem Balkon liegt eine Frau (Nadège Beausson-Diagne) und stellt sich tot. Doch ihr Mann schüttet Wasser in ihr Gesicht. Er will bedient werden! Das wird er auch: Die Frau greift geistesgegenwärtig ein Kehrblech, rammt es ihm von hinten in den Kopf und erstickt ihn schließlich!
Dann lernen wir die drei jungen Freundinnen aus BALCONETTES kennen: Nicole (Sanda Codreanu) schreibt auf dem Balkon an ihrem Roman. Sie beobachtet den fast nackten, gut gebauten Nachbarn von gegenüber (Lucas Bravo). Der dient als Inspiration für ihre romantische Geschichte. Aber: Er ist auch Objekt ihrer Selbstbefriedigung! Ruby (Souheila Yacoub) arbeitet als Cam-Girl, hat einen eigenwilligen Style und lässt auf dem Balkon zur Freude der Nachbarn die blanken Brüste hüpfen. Fehlt noch Élise, die Schauspielerin (Noémie Merlant). Die kommt völlig verpeilt mit dem roten Sportwagen ihres Mannes vorgefahren, noch kostümiert als Marilyn Monroe.
Noémie Merlant liefert mit BALCONETTES einen wirklich eigensinnigen Beitrag zur #MeToo-Debatte. Das Drehbuch hat sie zusammen mit Céline Sciamma (Regisseurin von „Porträt einer jungen Frau in Flammen“) geschrieben, die ihr half, die wilden Gedanken zu bündeln. So ganz ist das ihr zum Glück nicht gelungen. Die beiden sind befreundet, und auch Darstellerin Sanda Codreanu („Frieden, Liebe und Death Metal“) ist im wahren Leben eine sehr gute Freundin, die die Geschichte inspiriert und am Drehbuch mitgeschrieben hat. Die drei Frauen verarbeiten eigene Erfahrungen vor allem schwarzhumorisch.
Die liebevoll-schrille Ausstattung und die knalligen Farben der Bilder schaffen in BALCONETTES eine Atmosphäre, die an Pedro Almodóvars „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ erinnert. Ein Regisseur, der die Frauen liebt. Und die Frauen drehen hier auch ziemlich am Rad: Élise hat den Sportwagen mitten auf der Straße stehen lassen, weil es mit dem Einparken nicht geklappt hat. Ruby, die gar keinen Führerschein hat, versucht es nochmal. Ohne Erfolg, sie rammt das Auto des hübschen Nachbarn!
Um den Schaden zu regulieren, lädt er die drei Grazien zu sich ein. Zunächst werden die Bilder des Fotografen bewundert und zu fetziger Musik getanzt, der Alkohol fließt in Strömen. Nicole und Élise lassen Ruby alleine in der Wohnung des Fremden zurück. Die kommt erst früh morgens komplett blutverschmiert und völlig außer sich in die WG zurück. Und nun nimmt die Punk-Farce BALCONETTES noch mehr Fahrt auf. Nicole sieht den toten Nachbarn von oben (aus der Eingangsszene) als Untoten vor ihrer Tür. Und den Nachbarn von gegenüber finden die Drei aufgespießt und tot vor. Die Leiche muss beseitigt werden! Hier zeigt sich deutlich, dass Noémie Merlant von den Gore-Filmen, die sie in ihrer Jugend geschaut hat, inspiriert wurde.
Sämtliche Männerfiguren werden in BALCONETTES als Täter gezeigt, die Frauen vergewaltigt oder die häusliche Gewalt ausgeübt haben. Diese laufen im Film dann als Untote herum, obwohl sie von den Frauen getötet wurden. Nur Schriftstellerin Nicole kann die harmlosen Zombies sehen. Und will ihnen Lektionen erteilen. Dass männliche Zuschauer sich angegriffen fühlen, ist eigentlich unverständlich. Schließlich ist der Humor so drüber, dass jeder merken sollte: Es wird übertrieben, nicht alle Männer sind so. Die erzählen sich auch Witze über Blondinen. Und die sind schließlich nicht alle doof.
Regisseurin und Hauptdarstellerin Noémie Merlant („Wo in Paris die Sonne aufgeht“) traut sich mit dieser Sex-Farce etwas, erzählt aus der weiblichen Perspektive von Selbstermächtigung. Dass dies nicht bierernst geschieht, ist absolut erfrischend. Sie verarbeitet in BALCONETTES Themen wie Vergewaltigung in der Ehe aus dem eigenen Erfahrungshorizont heraus und zeigt viel nackte Haut. Vielleicht etwas holprig inszeniert, überzeugt dennoch der überdrehte, vitale Stilmix. Humor ist Geschmackssache, aber auch Männer sollten hier eher befreiend lachen als sich über Einseitigkeit zu beklagen!
Les femmes au balcon (Frankreich 2023)
104 Minuten
Komödie / Horror
Noémie Merlant
Noémie Merlant
Evgenia Alexandrova
Souheila Yacoub, Sanda Codreanu, Noémie Merlant, Lucas Bravo, Nadège Beausson-Diagne
Progress Film GmbH