Selten erlebt man im Kino, dass die Verehrung eines Regisseurs für einen berühmten Kollegen so offensichtlich ist wie in ISLANDS von Jan-Ole Gerster. Den Film, eine raffinierte Mischung aus Familiendrama, Psychothriller und Film Noir, durchweht der Geist und die Magie von Michelangelo Antonioni, einem der größten Filmregisseure des 20. Jahrhunderts. Und doch ist ISLANDS keine schale Kopie, sondern ein eigenständiges Meisterwerk. Bravo!
Der Brite Tom (Sam Riley) arbeitet seit Jahren als Tennistrainer in einem All-Inclusive-Hotel auf Fuerteventura. Was für viele wie ein Traumjob aussieht, ist für den ehemaligen Tennisprofi zur eintönigen Routine geworden. Toms Leben besteht aus Disco, Alkohol, Drogen, One-Night-Stands und dem Job auf der Tennisanlage, den er Tag für Tag gelangweilt ausübt. Bis auf ein älteres marokkanisches Ehepaar, das eine Kamelfarm betreibt, hat er keine Freunde – und jeden Morgen wacht er im Bett einer anderen Touristin auf.
Eines Tages wird er von der Engländerin Anne (Stacy Martin) angesprochen, die ihn bittet, ihrem siebenjährigen Sohn Anton (Dylan Torrell) Tennisstunden zu geben. Er sei zwar ausgebucht, erklärt sich auf energischen Drängens seitens Anne aber bereit, am nächsten Morgen um 9 Uhr eine Stunde einzuschieben, da die gebuchte Person eh nie kommt. Tom erscheint verspätet und völlig verkatert zum Termin, freundet sich aber gleich mit Anton und dessen Mutter an. Bald lernt er auch Annes Mann, den jovialen Dave (Jack Farthing), kennen.
Tom spürt, diese Kleinfamilie ist so ganz anders als die üblichen Pauschaltouristen. Er nutzt seinen guten Kontakt zur Rezeptionistin und besorgt Anne und Dave ein besseres Zimmer im Hotel. Er bietet der Familie sogar an, ihr die schönsten Ecken der Kanaren-Insel an zeigen. Sie baden an einem einsamen Traumstrand, und Anton darf auf einem Dromedar reiten. Abends kommen sich die drei Erwachsenen bei einem Drink auf dem Balkon auch menschlich näher. Tom merkt, dass es in der Ehe von Anne und Dave kriselt. Doch was ist der Grund?
Eines Abends überredet Dave Tom, gemeinsam die Kult-Disco „Waikiki“ zu besuchen. Dave bandelt mit einer Surfer-Clique an und ist schon nach kurzer Zeit sturzbesoffen. Am nächsten Morgen wacht Tom auf einer Liege am Hotel-Pool auf – und Dave ist spurlos verschwunden…
Jetzt ist ISLANDS endlich zum Thriller mutiert, und Anne entpuppt sich wie in einem klassischen Film Noir als Femme Fatale. Was führt die geheimnisvolle Schöne im Schilde und warum wird sie von der Polizei verdächtigt, etwas mit dem Verschwinden ihres Mannes zu tun zu haben? Warum sucht sie immer näheren Kontakt zu Tom? Und warum fühlt sich der Tennistrainer fast schon wie ein Vaterersatz für Anton?
Jan-Ole Gerster gelingt es auf faszinierende Weise, dass die Atmosphäre immer unheimlicher wird. Und das alles unter strahlendem Himmel am blauen Atlantik. Hier ist nichts düster. Auch die Highsmith-Verfilmung „Nur die Sonne war Zeuge“ mit Alain Delon spielte bei ähnlichen Wetterbedingungen.
In Antonionis Klassiker „L’Avventura“ verschwand eine Frau spurlos und tauchte bis zum Ende des Films nicht wieder auf. In „Blow Up“ entdeckt ein gelangweilter Modefotograf eine Leiche im Park, die dann plötzlich nicht mehr da ist. Am Ende beobachtet er bunt verkleidete Tennisspieler (!). Jan-Ole Gerster kennt die Filmgeschichte – und schafft doch etwas völlig Neues.
Gemeinsam mit seinem kongenialen Kameramann Juan Sarmiento G. kreiert Gerster eine Aura des Unwirklichen. Nichts ist, wie es scheint. Hier hat ein Regisseur verstanden, was das Kino ausmacht. Doch bei der Premiere auf der Berlinale war die Reaktion der Zuschauer durchwachsen. Viele waren irritiert, dass Gersters dritter, auf Englisch gedrehter Film so ganz anders geartet ist als die beiden auf Deutsch gedrehten Vorgänger „Oh Boy“ (2012) und „Lara“ (2019). Die Sinnsuche eines Ex-Studenten und der 60. Geburtstag einer einsamen, extrem unsympathischen Frau waren spröde inszenierte Dramen. ISLANDS dagegen ist Sonne, Sand und Meer.
Das perfekt konstruierte Drehbuch schrieb Gerster gemeinsam mit Blaž Kutin und Lawrie Doran, basierend auf einer eigenen Kurzgeschichte. Und der seit Jahren in Berlin lebende Sam Riley („Control“) spielt hier die Rolle seines Lebens. Völlig zurecht wurde er für diese Leistung als Bester Hauptdarsteller für den Deutschen Filmpreis nominiert. Die Preisverleihung ist am 9. Mai.
Das Genialste an ISLANDS: Irgendwann im Laufe des Films ahnt wohl jeder Zuschauer die Pointe. Doch die alles entscheidende Frage wird nie gestellt. Auch nicht am Ende! Wir müssen also mitdenken…
Islands (Deutschland 2025)
122 Minuten
Drama / Thriller
Jan-Ole Gerster
Jan-Ole Gerster
Jan-Ole Gerster, Blaž Kutin, Lawrie Doran
Juan Sarmiento G.
Sam Riley, Stacy Martin, Jack Farthing, Dylan Torrell, Pep Ambròs, Bruna Cusí, Ramiro Blas, Ahmed Boulane, Fatima Adoum, Maya Unger, Alina Schaller, Iker Lastra, Ainhoa Hevia, Isabella Stoffel, Fernando Navas, Agnes Lindström Bolmgren
Leonine Distribution GmbH