Der Film der Woche

Warten auf Bojangles

04.08.2022

Wo genau liegt die Grenze zwischen psychischer Krankheit und Nonkonformismus? Wer entscheidet, wie man sich „richtig“ verhält und die angeblichen Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens einhält? Wie reagiert die Umwelt, wenn ein Liebespaar ganz in sich ruht und die Einflüsse von außen an sich abblitzen lässt? Große Themen, die der französische Autor Olivier Bourdeaut mustergültig umgesetzt hat – sein Debütroman hat im eigenen Land längst Kultstatus erreicht. Nach langem Zögern hat nun der Regisseur Régis Roinsard („Mademoiselle Populaire“) unter dem gleichen Titel WARTEN AUF BOJANGLES einen mitreißenden und brillanten Film gemacht, der sich konsequent allen Konventionen widersetzt.

Frankreich in den späten 1950er-Jahren: Der ständig lächelnde Hallodri Georges (Romain Duris) schmuggelt sich bei einer Party der Superreichen an der Côte d’Azur unter die Gäste, als gehöre er dazu. Jeder sieht in ihm sofort den Schaumschläger – doch das scheint niemanden zu stören. Auch der gut betuchte Charles (Grégory Gadebois) findet Gefallen an dem Sonderling, ebenso seine schöne, junge Begleiterin Camille (Virginie Efira). Für Georges und Camille ist es Liebe auf den ersten Blick, und nach einem spontanen Bad (in voller Montur) im Mittelmeer verlassen sie die Spießer-Party. Auf der kurvenreichen Küstenstraße rammt sein Cabrio einen Baum – direkt vor einer einsam gelegenen Kapelle, wo sich die beiden ganz privat das Jawort geben und die „Ehe“ gleich an Ort und Stelle auf dem Altar vollziehen.

Am nächsten Morgen ist die unberechenbare Camille verschwunden – samt Auto. Ihre offensichtliche bipolare Störung will niemand so richtig ernst nehmen. Doch Georges ist wild entschlossen, seine große Liebe wiederzufinden. Das Paar versöhnt sich, und kurz danach ist ein Kind auf dem Weg. Bei der Geburt ist Hausfreund Charles, inzwischen ein verlässlicher Partner, mit dabei. Nur um Geld zu verdienen, verdingt sich Georges in Paris im ungeliebten Beruf des Gebrauchtwagenhändlers – während sich Camille um die Erziehung von Sohn Gary (Solan Machado-Graner) kümmert. Doch irgendetwas stimmt mit der anscheinend so glücklichen Kleinfamilie nicht: Die Post liegt seit Monaten ungeöffnet im Flur, Camille verhält sich immer merkwürdiger, und der inzwischen schulpflichtige Gary wird von seinen Kameraden gemobbt – so lange, bis seine Mutter ihn trotzig von der Schule nimmt und zu Hause unterrichten will. Stolz beobachtet Gary, wie seine Eltern zu ihrem Lieblingssong „Mr. Bojangles“ traumverloren im Wohnzimmer tanzen.

Aber das Ende ist unaufhaltsam. Erst steht der Gerichtsvollzieher vor der Tür, dann setzt Camille die Wohnung in Brand. Anders als Georges wird sie mit dem Leben abseits der Normen offenbar nicht fertig – und das ausgerechnet im scheinbar so liberalen Frankreich Mitte der 1960er-Jahre. Georges bleibt keine andere Wahl: Er weist Camille in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik ein. Doch Vater und Sohn kommen mit der neuen Situation nicht klar. In einer Verzweiflungstat entführt Georges seine Frau, und alle drei fliehen nach Spanien, wo ihnen der reiche Charles ein Traum-Schloss direkt am Mittelmeer überlässt. Doch wie geht es weiter…

Mit Naturalismus hat Regisseur Régis Roinsard ganz offensichtlich nichts am Hut. In WARTEN AUF BOJANGLES ist alles ganz bewusst eine Nummer zu groß. Die Party zu Beginn ist farbenprächtiger Kitsch in Reinkultur, auch das bizarre Lotterleben in der Pariser Altbauwohnung kostet Roinsard genüsslich aus. Und das märchenhafte Finale in Spanien ist fast nicht mehr von dieser Welt. Ganz im Stil der (wunderbar) überladenen Hollywood-Filme von Douglas Sirk hat der Regisseur sein Melodram extrem künstlich angelegt – als ein Fest der Liebe und der großen Gefühle.

Virginie Efira ist eine der besten Schauspielerinnen unserer Tage. Wie sie den allmählichen Absturz einer manisch Depressiven von der Normalität in den Wahnsinn spielt, ist schlichtweg atemberaubend. Und Romain Duris versprüht seinen unvergleichlichen Charme, bis der Alltag ihn einholt. Noch einmal tanzt das Paar auf einer wilden Party, zu dem alle Nachbarn eingeladen sind, im spanischen Schlosshof seinen „letzten Tango“ (eigentlich ist es ein Paso Doble) – doch dann ist Schluss…

Es ist auffällig: In vielen Filmen von 2022 geht es um physische und psychische Krankheiten – offenbar ein internationaler Trend. Doch so ungewöhnlich wie Régis Roinsard hat sich noch keiner an dieses nicht sehr angenehme Thema herangewagt. In Zeiten des naturalistischen Kinos zeigt uns ein Regisseur, dass es auch anders geht. Dieser Mut muss an der Kinokasse belohnt werden. Ein sensationeller Film!

Trailer

ab12

Originaltitel

En attendant Bojangles (Frankreich 2021)

Länge

125 Minuten

Genre

Drama

Regie

Régis Roinsard

Drehbuch

Romain Compingt

Darsteller

Virginia Efira, Romain Duris, Gregory Gadebois, Solan Machado-Graner

Verleih

Studiocanal GmbH

Filmwebsite

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