Der Film der Woche

In einem Land, das es nicht mehr gibt

06.10.2022

Wer geglaubt hatte, nach der eher mäßigen „Stasikomödie“ von Leander Haußmann vor wenigen Monaten sei zum Thema DDR inzwischen alles gesagt, sieht sich eines Besseren belehrt. Der melodramatische Geniestreich IN EINEM LAND, DAS ES NICHT MEHR GIBT von Aelrun Goette wirft einen völlig untypischen Blick auf die letzten Monate dieser angeblichen „Volksrepublik“. Es geht um ein Thema, das wir Westdeutschen nicht unbedingt mit dem Arbeiter-und-Bauern-Staat verbinden: um die Modewelt aus sozialistischer Sicht.

Ostberlin im Frühsommer 1989: Kurz vor ihrem Abitur und dem angestrebten Studium der Literaturwissenschaft wird die 18-jährige Suzie (Marlene Burow) bei einer Polizeikontrolle mit dem in der DDR verbotenen Roman „1984“ von George Orwell in der Tasche erwischt. Sie fliegt von der Schule und muss zur Strafe (und um sich zu bewähren) in einem Kabelwerk malochen, wo sie an einer lauten Maschine Löcher in Metallplatten bohrt. Zum Glück kümmert sich die Brigadeleiterin Gisela (Jördis Triebel) liebevoll um die „Kleene“: „Du gehörst nicht hierher.“

Auf ihrer langen Straßenbahnfahrt zur Fabrik wird sie eines Morgens von einem Fotografen abgelichtet, wie sie verträumt aus dem Fenster blickt. Und dieser Schnappschuss landet tatsächlich als ganzseitiges Foto im angesehenen DDR-Modejournal „Sibylle“, sozusagen der „Vogue des Ostens“. Über Umwege erfährt die Chefedakteurin Elsa (Claudia Michelsen) Suzies Namen und bietet ihr einen Job als Mannequin an – sehr zum Unwillen des aktuellen Stars Uta (Sira Topic). Elsas schwuler Assistent Rudi (Sabin Tambrea) soll ihr das nötige Know-how beibringen, so auch den „aufrechten Gang“ (auf dem Laufsteg, versteht sich). Als die „Sibylle“-Redaktion im Kabelwerk auftaucht, um eine Modeshow in ungewöhnlicher Umgebung zu fotografieren, werden Suzies Kolleginnen blass vor Neid.

Parallel dazu hat der extravagante Rudi mit einigen Freunden in einer heruntergekommenen Altbauwohnung eine Art Subkultur aufgebaut, um seine Sicht auf die Modewelt zu entwickeln. Natürlich hat die Stasi längst ein misstrauisches Auge auf diese Mischung aus Underground und zivilem Widerstand geworfen – der graue Wartburg steht unübersehbar ständig vor dem Haus.

Suzie verliebt sich in den Fotografen Coyote (David Schütter) und darf mit zur wichtigsten Messe des Landes nach Leipzig, wo Volkskammer-Präsident Sindermann eine Privatvorführung erhält. Doch dabei kommt es zum Eklat…

Die Regisseurin und Drehbuchautorin Aelrun Goette hat in IN EINEM LAND, DAS ES NICHT MEHR GIBT eigene Erfahrungen verarbeitet. Auch sie hatte als Mannequin Karriere gemacht, nachdem sie auf der Straße von einem Fotografen angesprochen worden war. Mit einem unverbrauchten Schauspieler-Ensemble hat sie diese bizarre Geschichte mustergültig und unglaublich einfühlsam umgesetzt. Die Neuentdeckung Marlene Burow spielt mit ihrem natürlichen Charisma alle an die Wand – wäre da nicht die schillernde Figur des unkonventionellen Quergeistes Rudi, den der Deutsch-Rumäne Sabin Tambrea („Narziss und Goldmund“) mit all seinen Facetten ausleuchtet. Eine der besten Leistungen eines deutschsprachigen Schauspielers seit langem!

Aelrun Goette schafft in ihrer tiefsinnigen Inszenierung traumhaft sicher den Spagat zwischen Muffigkeit und Eleganz, zwischen Staatstreue und Anarchie. Der letzte Schriftzug im Film ist dann keine Überraschung mehr: „Am 9. November 1989 fiel die Mauer.“

Man denkt, man hat schon alles gesehen – doch hier ist alles anders. IN EINEM LAND, DAS ES NICHT MEHR GIBT ist einer der besten deutschen Filmes des Jahres!

Trailer

Im Rahmen der Berichterstattung
ab12

Originaltitel

In einem Land, das es nicht mehr gibt (Deutschland 2022)

Länge

101 Minuten

Genre

Drama / Historie

Regie

Aelrun Goette

Drehbuch

Aelrun Goette

Darsteller

Marlene Burow, Sabin Tambrea, David Schütter, Claudia Michelsen, Jördis Triebel, Bernd Hölscher, Sven-Eric Bechtolf, Hannah Ehrlichmann, Gabriele Völsch, Peter Schneider, Sira Topic, Zoé Höche

Verleih

Tobis Film GmbH & Co. KG

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