Der Film der Woche

Helden der Wahrscheinlichkeit

23.09.2021

Der Däne Anders Thomas Jensen ist derzeit der wohl berühmteste Drehbuchautor seines Landes. Niemand versteht es besser, die Skurrilitäten seiner Landsleute auf die Leinwand zu bringen – seinen absurden schwarzen Humor macht ihm keiner nach. Manchmal setzt er sich auch auf den Regiestuhl: Sein letzter Film war „Men & Chicken“ von 2015, wobei er in meinen Augen den Bogen etwas überspannt hatte. Das war damals alles zu krank und durchgeknallt, um noch witzig zu sein. In seiner neuesten Regiearbeit HELDEN DER WAHRSCHEINLICHKEIT – natürlich wieder nach eigenem Drehbuch – macht er dagegen alles richtig, diese schwarze Komödie ist einer der Höhepunkte des Kinojahres. Und er hatte das Glück, mit Mads Mikkelsen und Nikolaj Lie Kaas die beiden aktuell wohl besten dänischen Schauspieler an seiner Seite zu haben. 

Blaues oder rotes Fahrrad, Sitzplatz oder Stehplatz in der U-Bahn? Diese Entscheidungen können ein ganzes Leben verändern. Der Verbindung von Zufall und Wahrscheinlichkeit geht der Mathematiker Otto (Nikolaj Lie Kaas) in Manager-Seminaren auf den Grund. Auf der Heimfahrt bietet er in der U-Bahn einer Frau seinen Sitzplatz an. Dann geschieht ein Zugunglück (oder war es ein Attentat?). Die Frau stirbt, Otto überlebt. Der Mann der Toten, Markus (Mads Mikkelsen), dient als UN-Soldat in Afghanistan und wird nach Hause geschickt, um sich um seine Teenager-Tochter Mathilde (Andrea Heick Godeberg) zu kümmern.

Plötzlich stehen drei bizarre Gestalten vor der Wohnung des trauernden Witwers: Otto und seine beiden Kumpanen, sein Ex-Kollege Lennart (Lars Brygmann) und der geniale Hacker Emmenthaler (Nicolas Bro). Der eloquente Otto versucht Markus weiszumachen, dass der Tod von dessen Frau kein Zufall war. Aus zahllosen Details knüpft Otto eine scheinbar zwingende Kausalkette, an deren Ursprung eine obskure, radikale Bande namens „Riders of Justice“ steht. Die gehackten Überwachungskameras hatten außerdem einen Mann beobachtet, der in der Bahn teures Essen wegwarf und kurz vor dem Unfall ausstieg: der Attentäter?

Markus’ Rachelust ist geweckt – und schon startet das Quartett einen blutigen Feldzug gegen alle Feinde Dänemarks. Mathilde wird erklärt, dass die drei neuen Freunde ihres Vaters Psychotherapeuten sind, die ihr in ihrem Schmerz helfen wollen. Schräger geht’s kaum! Bei ihrer erbarmungslosen Rachetour kommen die Vier örtlichen Gangstern in die Quere. Am Ende pflastern viele Leichen ihren Weg.

Dieser überraschende Bruch mitten im Film ist typisch für Anders Thomas Jensen. Was wie eine skurrile Komödie beginnt, endet in einem Blutbad. Doch diesmal funktioniert’s! Hier hat der Drehbuchautor und Regisseur den Nerv der Zeit getroffen – manchmal hat man das Gefühl, dies ist die dänische Variante von „Je suis Karl“. Wie gehen ein Staat und seine Bürger mit politischer Radikalität um? Das Tolle ist: Anders Thomas Jensen gibt keine klaren Antworten – Ambivalenz ist das Schlüsselwort dieses grandiosen Films, der bewusst viele Fragen offen lässt. Also genug Stoff für Diskussionen nach dem Verlassen des Kinos! Nur die Sache mit dem blauen und roten Fahrrad wird am Ende geklärt. Lasst euch überraschen! Eine Sache ist hingegen gewöhnungsbedürftig: Mit seinem weißen Rauschebart sieht Mads Mikkelsen aus wie ein alter Wikinger. Dazu passt der Schlusssatz: HELDEN DER WAHRSCHEINLICHKEIT ist bärenstark!

Trailer

ab16

Originaltitel

Riders of Justice (Dänemark 2020)

Länge

116 Minuten

Genre

Schwarze Komödie

Regie

Anders Thomas Jensen

Drehbuch

Anders Thomas Jensen

Darsteller

Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas, Andrea Heick Gadeberg, Lars Brygmann, Nicolas Bro

Verleih

Neue Visionen Filmverleih GmbH

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