Der Film der Woche

Eine Sekunde

14.07.2022

Mit seinem sensationellen Regiedebüt „Rotes Kornfeld“ gewann der Chinese Zhang Yimou 1988 bei der Berlinale den Goldenen Bären. Poetische Meisterwerke wie „Judou“ und „Rote Laterne“ verschafften ihm schnell einen festen Platz im Weltkino, ehe er auch im Martial-Arts-Genre („Hero“, „House of Flying Daggers“) für Furore sorgte. Mit EINE SEKUNDE ist er jetzt zu seinen Anfängen zurückgekehrt. Der Film sollte bereits 2019 bei der Berlinale gezeigt werden, wurde aber kurzfristig zurückgezogen – angeblich aus technischen Gründen. Doch jedem war damals klar: Da war die chinesische Politik beziehungsweise Zensur mit im Spiel. Jetzt kommt der Film doch noch ins Kino – und die Tragikomödie lässt kein gutes Haar an der unsäglichen Kulturrevolution (1966 – 1976) unter Mao Zedong.

Ein Mann (Zhang Yi) hetzt über die Sanddünen der Wüste Gobi, was Kameramann Zhao Xiaoding mit atemberaubenden Bildern einfängt. (Auch Zhang Yimou war übrigens zu Beginn seiner Karriere in erster Linie Kameramann.) Ziemlich bald wird deutlich: Der Mann ist aus einem Arbeitslager geflohen, um in einer Kleinstadt an Rande der Wüste bei einer Filmvorführung vorweg eine Wochenschau anzuschauen, auf der angeblich seine Tochter zu sehen ist, die er seit sechs Jahren nicht mehr getroffen hat. Für die Vorstellung kommt er zu spät, doch der Filmvorführer (Fan Wei) vertröstet ihn auf den nächsten Ort, wo das gleiche Programm ablaufen soll: die aktuelle Wochenschau und ein heroischer Kriegsfilm, in dem tapfere Chinesen gegen den (scheinbar übermächtigen) Feind kämpfen.

Heimlich kann der Mann eine der Filmrollen stehlen, die ihm aber postwendend von dem Waisenmädchen Liu (Liu Haocun) abgenommen wird. Immer wieder begegnen sich die beiden, die wie Hund und Katze aufeinander reagieren – einer Mischung aus Zutrauen, Freundschaft und Hass. Was will sie mit der Filmrolle? Als beide nach langen Abenteuern und kurz vor dem Verdursten im Nachbarort landen, muss der (mitgereiste) Filmvorführer zugeben, dass die Rollen verschütt gegangen sind. Es wird keine Vorstellung geben. Doch plötzlich tauchen sie wieder auf: Der debile Sohn des Vorführers hatte die Filmdosen auf seinem Holzfuhrwerk transportiert. Dabei sind die Dosen aufgegangen, und das Zelluloid ist nur noch ein verklumpter Haufen.

Der Vorführer hat eine geniale Idee: Das ganze Dorf wird dazu verdonnert, das verschmutzte Zelluloid mit sauberen Tüchern, Reinigungsmitteln und Fächern (zum Trocknen) zu retten. Diese verblüffende Sequenz inszeniert Zhang Yimou als Liebeserklärung an das Kino – als ob es das Natürlichste der Welt sei. Und diese Faszination erfasst wohl jeden Zuschauer im Saal. Einfach unglaublich!

Inzwischen ist die Wochenschau schon wieder verschwunden – und der Vorführer vertröstet den Flüchtling auf die Zeit nach dem Spielfilm. Erst ist das pathetische Kriegsmelodram an der Reihe. Doch dann darf der Mann seine Tochter sehen: Sie ist aber nur „eine Sekunde“ (Titel!) im Bild. Wie einst Philippe Noiret im Klassiker „Cinema Paradiso“, der seinem jungen Freund die aus Zensurgründen herausgeschnittenen Kussszenen zeigt, fertigt der Vorführer eine Filmschleife an, damit der Flüchtling seine Tochter 100-mal hintereinander anschauen kann. Wem da nicht die Tränen kommen. Und als der Mann dann doch verhaftet wird, steckt der Vorführer dem Gefesselten heimlich ein Kuvert zu: zwei Film-Schnipsel mit dem Bild der Tochter. Welch eine Geste!

Auch Zhang Yimou bezieht sich – wie der indische Film „Das Licht, aus dem die Träume sind“ vor wenigen Wochen – unverkennbar auf Giuseppe Tornatores „Cinema Paradiso“. Alle drei Werke vereint die uneingeschränkte Liebe zum Kino. Wieder einmal zeigt sich: Dieses inzwischen 125 Jahre alte Medium ist reinste Poesie – wenn man als Filmemacher das Gespür dafür hat. Wie in allen großen Werken bilden hier Form und Inhalt eine wunderbare Einheit. Die visuelle Kraft der Bilder schafft ein intensives Gegengewicht zur Geschichte, dessen politischen Hintergrund wir immer im Hinterkopf behalten sollten.

Zhang Yimou ist und bleibt einer der besten Filmregisseure unserer Tage. Wir verneigen uns!

Trailer

ab12

Originaltitel

One Second (China 2020)

Länge

103 Minuten

Genre

Tragikomödie / Drama

Regie

Zhang Yimou

Drehbuch

Zhang Yimou, Zou Jingzhi

Darsteller

Zhang Yi, Fan Wei, Liu Haocun

Verleih

MUBI

Veröffentlichung

Nach dem Kinostart ist der Film ab dem 16.09.2022 exclusiv bei MUBI zu streamen

Filmwebsite

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