Der Film der Woche

Das Glücksrad

01.09.2022

Nicht nur für mich war „Drive My Car“ DER Film des Jahres 2021 – mit dem verdienten späten Erfolg: der Oscar für den den besten nicht englischsprachigen Film. Ein Jahr zuvor lief der vorletzte Film des japanischen Regisseurs Ryusuke Hamaguchi auf der Berlinale und gewann den Silbernen Bären in der Rubrik „Großer Preis der Jury“. Jetzt kommt DAS GLÜCKSRAD mit einem Jahr Verspätung in unsere Kinos. Wir sind dankbar dafür!

Wie vielschichtig das Schaffen von Ryusuke Hamaguchi ist, zeigt der Vergleich der beiden Filme: DAS GLÜCKSRAD ist so ganz anders als „Drive My Car“. Dort erlebten wir ein dreistündiges (!) Melodram über die Sinnsuche eines Theaterregisseurs, den die Freundschaft zu seiner jungen Fahrerin ins Leben zurückholt, hier sind es drei Episoden, die auf den ersten Blick so gar nichts miteinander gemeinsam haben. Nach drei eigenen Short Stories verfilmte Ryusuke Hamaguchi einen bizarren Reigen über Zufall, Glück und Phantasie. Wie bei allem Episodenfilmen kommt der Zuschauer natürlich in die Versuchung, eine Rangliste aufzustellen. Welche Episode ist die beste?

In „Magie (oder etwas weniger Zuverlässiges)“ fahren Meiko und ihre beste Freundin Tsugumi nach einem Foto-Shooting im Taxi gemeinsam durchs nächtliche Tokio nach Hause. Tsugumi schwärmt von ihrem neuen Freund, den Meiko nach einer Weile als ihren Ex-Freund Kasuaki erkennt. Nach der Verabschiedung sucht sie ihn in dessen Büro auf: „Ist es dir ernst mit Tsugumi?“ Als Tage später alle drei zufällig zusammentreffen, gönnt uns Ryusuke Hamaguchi zwei Versionen: In der ersten gibt sich Meiko als Ex-Freundin zu erkennen, in der zweiten verschwindet sie einfach. Und wir Zuschauer bleiben verstört zurück.

Schade, dass diese Raffinesse in den beiden anderen Episoden fehlt. „Die Tür bleibt offen“ ist eine klassische Rache-Geschichte. Nao will die Exmatrikulation ihres Lovers Sasaki durch dessen Literatur-Professors Segawa nicht akzeptieren und provoziert bei einem Besuch in Segawas Büro einen Eklat – es geht um pornografische Kapitel aus dessen neuem Roman. Dummerweise schickt sie das Tondokument an die falsche E-Mail.

Die dritte (Science-Fiction)-Episode „Noch einmal“ beginnt mit einem (in meinen Augen unnötigen) Vorspann: Ein Computervirus hat das Internet lahmgelegt, so dass die Weltbevölkerung wieder auf die Briefpost zurückgreifen muss. Leider nutzt der Regisseur hier nicht sein Potenzial. Diese Geschichte könnte vom französischen Regie-Altmeister Eric Rohmer erfunden worden sein – auch in seinen Filmen wurde viel geredet. Moka ist zum 20-jährigen Klassentreffen gefahren, um ihre damalige heimliche Liebe Nana wiederzusehen. Doch diese ist nicht gekommen. Aber am nächsten Tag fahren beide an einer Bahnstation auf der Rolltreppe aneinander vorbei – und Nana lädt Moka spontan zu sich nach Hause ein. Jetzt kommt die Pointe: Beide merken, dass sie sich überhaupt nicht kennen – es ist eine schlichte Verwechslung. Doch jetzt kommt die zweite Pointe: Beide spielen, als ob sie sich schon ewig kennen würden – mit einem unglaublich sentimentalen Abschied am Bahnhof. Diese faszinierende Szene treibt wohl jedem die Tränen in die Augen. So enden große Filme.

Wie schon „Drive My Car“ ist DAS GLÜCKSRAD nicht unbedingt ein visueller Volltreffer. Doch der Regisseur Ryusuke Hamaguchi weiß, was er will. DAS GLÜCKSRAD ist eine hauptsächlich literarische Reflexion über das Frauenbild im heutigen Japan. Auch das ist im modernen Kino völlig legitim. Seit es den Tonfilm gibt, bilden Bild und Sprache eine wunderbare Einheit. Nicht jeder Kinofilm benötigt einen alle Sinne raubenden Bilderrausch. DAS GLÜCKSRAD ist ein Meisterwerk der Reduktion. Nach diesen 121 Minuten dürfen wir lange nachdenken.

Trailer

FSK noch unbekannt

Originaltitel

Wheel of Fortune and Fantasy (Japan 2021)

Länge

121 Minuten

Genre

Drama

Regie

Ryusuke Hamaguchi

Drehbuch

Ryusuke Hamaguchi

Darsteller

Kotone Furukawa, Ayumu Nakajima, Hyunri, Kiyohiko Shibukawa, Katsuki Mori, Shouma Kai, Fusako Urabe, Aoba Kawai

Verleih

Film Kino Text – Jürgen Lütz eK

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