All Eure Gesichter

Autor: Jan-Barra Hentschel

Mit elf Jahren im Hamburger „Savoy“ bei „Ben Hur“ die Liebe zum Kino entdeckt. Dann kam mit „Blow Up“ und „Belle de Jour“ der „Arthouse-Film“ dazu. Seit 1989 ständiger Filmjournalist für diverse Medien. Jetzt fühlt er sich hier bestens aufgehoben.

Dialoglastige Filme in einem überschaubaren Ambiente können sehr dröge sein. Doch ALL EURE GESICHTER von Jeanne Herry überzeugt von der ersten bis zur letzten Sekunde – und das bei einer Länge von 118 Minuten. Auch beim diesjährigen Filmfest Hamburg wurde das Drama mit viel Begeisterung aufgenommen.

Auf den ersten Blick haben Nawelle (Leïla Bekhti), Chloé (Adèle Exarchopoulos), Sabine (Miou-Miou) und Grégoire (Gilles Lellouche) nichts gemeinsam – bis auf die Tatsache, dass sie Opfer von Verbrechen wurden. Im Rahmen eines in Frankreich erfolgreichen Programms nehmen sie freiwillig an einer Täter-Opfer-Aussprache teil. Im Besuchszimmer eines Gefängnisses treffen sie in lockerer Runde auf einsitzende Kriminelle. Für beide Seiten beginnt eine schmerzvolle, emotionale Reise.

Grégoire wurde in Anwesenheit seiner Tochter von Unbekannten überfallen, Nawelle wurde als Kassiererin in einem Supermarkt von Maskierten bedroht, Sabine traut sich seit sieben Jahren nicht mehr aus dem Haus, seit ihr damals auf offener Straße die Handtasche entrissen und sie danach zusammengeschlagen wurde.

Doch am Härtesten traf es Chloé: Als Kind und Jugendliche wurde sie von ihrem Bruder jahrelang missbraucht. Nach dessen Haftentlassung ist sie bereit, Benjamin (Raphaël Quenard) wiederzusehen, das Treffen soll die Mediatorin Judith (Elodie Bouchez) vermitteln.

Gemeinsam mit ihrer Drehbuch-Co-Autorin Chloé Rudolf hat Regisseurin Jeanne Herry, die auch sämtliche Dialoge schrieb, einen einfühlsamen Blick auf das französische Rechtssystem geliefert. An ihrer Seite wusste sie die einheimische Schauspielelite, die in Hochform agiert. Hier wird um Argumente gerungen, leidenschaftlich gestritten und um Versöhnung gekämpft. Die Regisseurin und ihr Kameramann Rémi Daru haben ihren Film fast dokumentarisch inszeniert. Das fordert vom Betrachter natürlich viel Muße.

Ich kann verstehen, dass sich nicht jeder Kinogänger dieser psychischen Tortur aussetzen will. Manches wirkt doch sehr theaterhaft. Doch alle Mutigen sollten einen Versuch wagen. Es lohnt sich!

Trailer