Weisses Rauschen

08.12.2022

Der 1936 geborene Don DeLillo gilt als einer der bedeutendsten US-Autoren des 20./21. Jahrhunderts. Eines seiner Hauptwerke ist der 1985 erschienene Roman „White Noise“ („Weißes Rauschen“) – und galt bislang als unverfilmbar. Jetzt hat sich Regisseur Noah Baumbach an das Werk herangetraut und es nach eigenem Drehbuch inszeniert. WEISSES RAUSCHEN hat er – wie schon „Marriage Story“ – für Netflix produziert, der Film startet aber zunächst auch bei uns in ausgewählten Kinos.

WEISSES RAUSCHEN bietet mit seinen 135 Minuten alles, was intellektuelles Independent-Kino ausmacht: extrem anspruchsvoll, hintergründig, tiefsinnig, visuell eindrucksvoll – aber eben auch eine Spur zu zerfahren und dabei bewusst eklektisch: Die filmischen Vorbilder sind schnell auszumachen. Doch wie schon der Roman liefert Baumbach hier ein satirisch-spöttisches Porträt der USA während der Reagan-Ära. Auf diesen „American Way of Life“ verzichten wir heutzutage gerne.

Jack (Adam Driver) ist Dozent an der Hochschule „College auf dem Hügel“ in einen Provinzstädtchen im mittleren Westen und Spezialist für „Hitler-Studien“. Dabei ist es ihm besonders peinlich, dass er kein Wort Deutsch spricht – und so nimmt er heimlich privaten Sprachunterricht: „Morgen ist Dienstag. Es gibt Kartoffelsalat.“

Jack lebt mit seiner (fünften) Frau Babette (Greta Gerwig) und seinen vier Kindern und Stiefkindern in einer typischen Patchwork-Familie. Höhepunkt seines langweiligen Alltags ist der Besuch im gigantischen Supermarkt des Ortes. Wie sein bester Freund und Kollege Murray (Don Cheadle) ist er von einer Sammelwut befallen: Er hortet alles über Hitler, bei Murray ist es Elvis Presley. Jacks Leben könnte so einfach sein – hätten er und Babette nicht ein Riesenproblem: Beide haben seit Jahren panische Angst vor dem Tod.

Als ein Chemieunfall die Kleinstadt bedroht – ein Tanklaster ist in einen Güterzug mit gefährlichen Chemikalien gerast – , ist plötzlich die Todesgefahr sehr konkret. Die Stadt wird evakuiert, und alle Bewohner landen in riesigen Lagern. Diesen Mittelteil inszeniert Baumbach überraschend aufwendig nach dem Muster bekannter Katastrophenfilme. Die unheimliche Gaswolke am Himmel wirkt fast wie ein Ufo aus Emmerichs „Independent Day“.

Nach einigen Tagen dürfen die Einwohner in ihre Häuser zurück. Doch Jack hatte inzwischen erfahren, das er zweieinhalb Minuten lang ungeschützt der gefährlichen „Wolke“ ausgesetzt war – er könnte jederzeit sterben. Im Ehebett gesteht ihm seine Frau zudem, dass sie jahrelang an einer nicht ganz legalen Testreihe mit dem Präparat „Dylar“ teilgenommen hatte, das angeblich gegen Todesangst hilft. Nach der Einstellung des Experiments kam sie aber nicht los von der Droge und suchte den mysteriösen Dealer Mr. Gray (ausgerechnet: Lars Eidinger) auf. Ihre Abmachung: Sex im Austausch mit Tabletten. Wutentbrannt stürmt Jack mit einer geschenkten Pistole in Mr. Grays Motelzimmer und schießt ihn nieder: Wenn schon jemand sterben muss, dann doch lieber ein anderer.

Jack schiebt dem nicht ganz Toten die Pistole in die Hand – es soll schließlich nach Selbstmord aussehen. Als Babette plötzlich erscheint, fällt noch ein Schuss – und alle drei Angeschossenen landen in einer von deutschen atheistischen Nonnen geführten Klinik. Hier hält ihnen die energische Schwester Marie (Barbara Sukowa) einen flammenden Vortrag (auf Deutsch!), warum es keinen Gott gibt.

Man merkt: Die Story ist reichlich konfus und nicht immer schlüssig. Das mag im Roman funktionieren – in Baumbachs Film wirkt aber vieles aufgesetzt. Die drei Teile sind vom Regisseur bewusst multistilistisch inszeniert: Auf eine sehr dialoglastige, schrille Collage-Satire folgt ein Katastrophenfilm à la Spielberg und ein düsteres Finale, das sehr an David Lynch erinnert. Das Ganze löst Noah Baumbach im Abspann mit einem leichtfüßigen, getanzten Musical mitten im Supermarkt auf. Amerika – du hast es besser. Mehr Ironie geht nicht!

Zurzeit gibt es nur einen Menschen, der im Weltkino die zwielichtige Rolle des Mr. Gray hätte spielen können. Und so besetzte Noah Baumbach natürlich den Deutschen Lars Eidinger, der mit diabolischem Grinsen diese Figur mit Leben füllte. Und Baumbachs Stammschauspieler Adam Driver fühlte sich in seinem (künstlichen) Bierbauch sichtlich wohl. Ebenso Greta Gerwig mit ihrer extrem bizarren Lockenfrisur.

Tolle Schauspieler – doch leider nur ein ehrenwerter, nicht ganz geglückter Versuch!

Trailer

FSK noch unbekannt

Originaltitel

White Noise (USA 2022)

Länge

136 Minuten

Genre

Drama / Satire

Regie

Noah Baumbach

Drehbuch

Noah Baumbach, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Don DeLillo

Darsteller

Adam Driver, Greta Gerwig, Don Cheadle, Raffey Cassidy, Sam Nivola, May Nivola, Jodie Turner-Smith, André L. Benjamin, Sam Gold, Carlos Jacott, Lars Eidinger , Francis Jue, Barbara Sukowa

Verleih

Netflix

Filmwebsite

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