Endlich traut sich in Deutschland mal wieder ein Filmemacher an eine umfassende, verschachtelte Geschichte: Matthias Glasner („Der freie Wille“) erzählt in fünf Kapiteln und einem Epilog mit STERBEN ein dreistündiges Familienepos, das sich schonungslos den ganz großen Themen und Problemen des Lebens widmet. Unterstützung erhält er dabei von einem grandiosen Schauspielensemble, angeführt von Lars Eidinger und Corinna Harfouch.
Auf der Berlinale wurde Glasner bereits mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Er erzählt in STERBEN von dem Abschnitt in seinem Leben, als seine Eltern innerhalb weniger Monate beide starben – und dazwischen seine erste Tochter geboren wurde, die übrigens in der Anfangssequenz zum Publikum spricht. Autobiografischer und persönlicher geht es also kaum.
Zunächst lernen wir Mutter Lissy Lunies (Corinna Harfouch) in der niedersächsischen Provinz kennen. Die ist Mitte Siebzig und hat genug von ihrem demenzkranken Mann (Hans-Uwe Bauer), der nur noch dahinsiecht und den sie als pflegende Angehörige kaum noch im Zaum halten kann. Also landet das Familienoberhaupt im Pflegeheim, wo es dann schnell zu Ende geht.
Nach der Beerdigung sitzen Mutter und Sohn Tom (Lars Eidinger) am Küchentisch und führen ein denkwürdiges Gespräch: Lissy ist selber schwer krank und eröffnet Tom, dass sie nun auch bald sterben werde. Außerdem ist er als Kind vom Wickeltisch gefallen oder sie hat ihn geworfen, das weiß sie nicht mehr so genau. Geliebt hat sie ihren Sohn jedenfalls nie. Tom realisiert nun, dass er nicht nur die Musikalität(er ist Dirigent), sondern auch die Gefühlskälte von ihr geerbt hat. Eine wirklich starke Szene, die sich über 20 Minuten erstreckt!
Das zweite Kapitel wird aus der Perspektive von Tom erzählt, der mit einem Jugendorchester in Berlin die Komposition „Sterben“ seines schwer depressiven Freundes Bernard (Robert Gwisdek) probt. Außerdem wird er zum Leihvater des Kindes seiner Ex-Freundin Liv (Anna Bederke), da diese dem leiblichen Vater nicht viel abgewinnen kann. Da gilt es vieles auszuhalten für Glasner-Alter Ego Lars Eidinger, der als zentrale Figur in STERBEN wirklich stark aufspielt!
Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) ist das nächste Kapitel in Hamburg gewidmet. Die driftet als Zahnarzthelferin im Dauer-Suff unkontrolliert von einem Filmriss zum nächsten. Ihr verheirateter Chef Sebastian (Ronald Zehrfeld) macht das eine Weile mit – und so kommt es zu einer der besten Szenen in STERBEN: Nachdem Ellen am Tresen einer Kneipe völlig berauscht den „Garden Song“ von Bill Fay aus dem Jahre 1970 gesungen und etwas zur Geschichte des Songwriters erzählt hat, fallen die beiden so unglücklich, dass Sebastian ein Zahn gezogen werden muss. Also greift Ellen beherzt zur Zange im Werkzeugkasten und legt los. Da erreichen Tragik und Komik kongenial einen Höhepunkt – Tarantino hätte es wirklich nicht besser hinbekommen!
Regisseur Matthias Glasner, der übrigens als Autodidakt zum Film kam, streift in STERBEN alle Aspekte des Lebens von der Geburt bis zum Tod mit all seinen Abgründen, aber auch all den Emotionen von Trauer bis Freude. Nach 12-jähriger Kinoabstinenz (zuletzt: „Gnade“) erreicht er dabei nicht konstant die Meisterschaft eines Paul Thomas Anderson („Magnolia“) oder Terrence Malick („The Tree Of Life“). Aber sein Kreislauf des Lebens, stets verwoben mit der Komposition „Sterben“ (die Filmmusik stammt von Lorenz Dangel), liefert wirklich grandiose Momente und hat ansonsten ein stets hohes Niveau. Themen wie dysfunktionale Familien und Traumata, die vererbt werden, gehören unbedingt ins Kino der Gegenwart.
Sterben (Deutschland 2024)
182 Minuten
Drama
Matthias Glasner
Matthias Glasner
Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Lilith Stangenberg, Ronald Zehrfeld, Robert Gwisdek, Anna Bederke, Hans-Uwe Bauer, Saskia Rosendahl, Nico Holonics, Saerom Park
Wild Bunch Germany GmbH