Der Film der Woche

Je Suis Karl

16.09.2021

Wie verführbar sind wir für die Parolen der rechten Populisten? Dieser Frage gehen der Regisseur Christian Schwochow und der Drehbuchautor Thomas Wendrich in ihrem Film JE SUIS KARL nach – und liefern damit einen der stärksten Filme dieses Jahres. 

Gedankenverloren nimmt Alex Baier (Milan Peschel) ein Paket für einen Nachbarn an und deponiert es in der Wohnung. Während er noch mal zum Auto geht, um den vergessenen Wein zu holen, geschieht das Unglaubliche: Eine Explosion zerstört die Wohnung und reißt seine Frau und die Zwillinge in den Tod. Während er den Boden unter den Füßen verliert, ist die Tochter Maxi (Luna Wedler), die gerade von einem Auslandsaufenthalt aus Paris zurückgekehrt ist und nur durch einen Zufall nicht in der Wohnung war, wütend und beginnt, Fragen zu stellen. Plötzlich taucht ein junger Mann namens Karl in ihrem Leben auf, der ihr Antworten bietet… 

Bereits 2015 haben Schwochow und Wendrich zusammen einen Teil der ARD-Trilogie „Mitten in Deutschland: NSU“ inszeniert. Schon bei der Recherche dazu wurde ihnen klar, dass sie unbedingt einen Kinofilm über die neue Generation von rechten Populisten machen wollten. Anders als zuvor kamen diese nämlich plötzlich in einem neuen Gewand um die Ecke. Ihre eindeutig menschenverachtenden Parolen und Umsturzfantasien verpackten sie in einen neuen Look, versahen sie mit moderner Symbolik, feschen Slogans und verwirrenden Begrifflichkeiten. 

Natürlich befindet sich die Figur der Maxi, eindrucksvoll gespielt von Luna Wedler, hier in einer Ausnahmesituation. Wenn man nach einem Bombenanschlag traumatisiert ist, bei dem man gerade erst die eigene Mutter und die jüngeren Geschwister verloren hat, ist man sicherlich empfänglicher für solche Botschaften. Dass das aber noch viel mehr den perfiden Methoden dieser Leute geschuldet ist, zeigt JE SUIS KARL sehr deutlich, in dem der Film aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird. Dem Zuschauer ist so schnell klar, welches Spiel Karl spielt und möchte so manches Mal warnend eingreifen. Gleichzeitig fragt man sich aber auch, ob man nicht selbst auf diese Tricks hereingefallen wäre, würde man nur die Position der Maxi kennen. Diese feine Balance haben Schwochow und Wendrich perfekt hinbekommen, was bestimmt nicht immer einfach war.

Ein weiterer Coup des Films ist es, dass er die Geschichte auf eine europäische Ebene bringt. Kaum einem ist nämlich bewusst, wie gut all die rechten Gruppierungen in Europa vernetzt sind. So wird beispielsweise durch Maxis französische Mutter der Bogen nach Frankreich gespannt, wo man mit dem Front Nationale schon immer ein rechtes Problem hatte. Gleichzeitig war Wendrich klar, dass der Film auch eine osteuropäische Komponente benötigt. Was läge dabei näher als Prag für ein Zusammentreffen der rechten Strömungen zu nutzen. 

Zu Beginn der Arbeiten am Drehbuch war die Geschichte noch als eine Art Dystopie in einer nicht allzu fernen Zukunft angelegt. Doch dann wurde Wendrich klar, dass viele dieser Dinge bereits heute geschehen. Nach dem Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz, den Ereignissen in Halle und anderen Vorkommnissen stand fest, die Handlung ins Hier und Jetzt zu verlegen. Eine kluge Entscheidung, denn so erlangt der Film noch viel mehr Brisanz. 

Auch das Problem der sogenannten „Fake News“ thematisiert der Film. In einer Szene beobachtet Maxi beispielsweise eine junge Frau, die vor einer laufenden Kamera unter Tränen von der Vergewaltigung durch einen Ausländer berichtet. Als Maxi sie nach Ende des Drehs trösten will, sagte ihr diese jedoch nur, dass sie sich keine Sorgen machen soll: „Ich wurde gar nicht vergewaltigt, das habe ich erfunden. Aber irgendwer wurde es bestimmt und das hilft uns“. Wenn wir keine Beweise haben, dann erfinden wir sie einfach. so die krude Denkweise dieser Demokratiefeinde. Für den Zuschauer ist es absolut erschütternd, diese Tricks so entlarvend zu sehen, schließlich hat man der jungen Frau sicherlich gerade genauso geglaubt, wie es Maxi getan hat. Und wenn es gerade keinen islamistischen Anschlag gibt, dann inszeniert man ihn eben, um Angst und Hass vor allem Fremden zu schüren. Ein erschreckender Verlauf, der uns als Zuschauer verdammt sprachlos macht. 

Der wichtigste Punkt an JE SUIS KARL ist jedoch, dass er zu keinem Zeitpunkt belehrend daher kommt, wie es sonst (leider) meist in deutschen Produktionen üblich ist. Nein, der Film findet einen ganz eigenen Weg, uns die Problematik der Verführung vor Augen zu führen. Das macht den Film gerade für das junge Publikum so unfassbar wichtig. Ich hoffe, dass er in ganz vielen Schulvorstellungen zu sehen sein wird. 

Auch darstellerisch weiß JE SUIS KARL zu überzeugen. Jannis Niewöhner ist verdammt stark in der Rolle des charismatischen Karl, Luna Wedler spielt wie immer eindrucksvoll zwischen Trauer und Wut changierend, aber die größte Überraschung ist Milan Peschel. Ja genau, der Milan Peschel, den man in den vergangenen Jahren fast ausschließlich in irgendwelchen klamaukigen Rollen gesehen hat, wie beispielsweise gerade als Bademeister in „Beckenrand Sheriff„. Wie Peschel hier den Vater spielt, der völlig den Halt verliert, ist mehr als beeindruckend. Endlich kann er mal wieder zeigen, wozu er als Schauspieler wirklich fähig ist. Natürlich hat er das bereits 2011 in „Halt auf freier Strecke“ von Andreas Dresen bewiesen, aber seitdem gefühlt gar nicht mehr. 

Bleibt zu hoffen, dass JE SUIS KARL der Auftakt ist zu einer Diskussion über die manipulativen Tricks der rechten Populisten. Denn den richtigen Umgang mit Kräften wie beispielsweise der AfD haben wir als Gesellschaft offenbar noch immer nicht gefunden. War der Aufschrei noch groß, als die Partei in die ersten Landtage einzog, sind wir inzwischen schon froh, wenn sie nicht über 10 Prozentpunkte kommt. Wir Menschen müssen hier vermutlich noch viel lauter werden, dem Problem entschlossener entgegentreten und unsere Gleichgültigkeit über Bord werfen, um den populistischen Tendenzen etwas entgegenzusetzen. Fangen wir am besten gleich morgen damit an. Mit dem Gang ins Kino. Zu JE SUIS KARL. 

Trailer

ab12

Originaltitel

Je Suis Karl (Deutschland / Tschechien 2021)

Länge

126 Minuten

Genre

Drama

Regie

Christian Schwochow

Drehbuch

Thomas Wendrich

Darsteller

Luna Wedler, Jannis Niewöhner, Milan Peschel, Edin Hasanovic, Anna Fialová, Fleur Geffrier, Aziz Dyab, Marlon Boess, Victor Boccard, Mélanie Fouché, Elizaveta Maximová, Johann Christof Laubisch

Verleih

Pandora Film GmbH & Co. Verleih KG

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