Der Film der Woche

Divertimento – Ein Orchester für alle

15.06.2023

Es ist erst wenige Monate her, dass „Tár“ in unseren Kinos lief – ein Film über eine von Cate Blanchett gespielte erfolgsverwöhnte Dirigentin. Auch in DIVERTIMENTO – EIN ORCHESTER FÜR ALLE von Marie-Castille Mention-Schaar dreht sich alles um eine Dirigentin, die aber noch am Anfang ihrer Karriere steht. Und diese Dirigentin gibt es wirklich. Dieser hinreißende Film erzählt nämlich eine wahre Geschichte.

Die algerisch-stämmige Zahia Ziouani (Oulaya Amamra) und ihre Zwillingsschwester Fettouma (Lina El Arabi) leben mit ihren Eltern (Zinedine Soualem und Nadia Kaci) in einem der hässlichen Banlieue-Hochhäuser am Stadtrand von Paris. Beide träumen von einer professionellen Laufbahn im Bereich der klassischen Musik. Zahia will Dirigentin werden, und Fettouma ist schon längst eine begnadete Cellistin. Beide werden von ihrem Vater von Anfang an liebevoll unterstützt. Schlüsselerlebnis ist die Szene, in der er seinen Töchtern eine Fernsehaufzeichnung von Maurice Ravels „Bolero“ mit dem Stardirigenten Sergiu Celibidache (Niels Arestrup) vorführt.

Am stickig-elitären Pariser Konservatorium herrscht jedoch hoher Konkurrenzdruck – und ein deutlich spürbarer Rassismus: eine 17-Jährige mit algerischen Wurzeln als Dirigentin, das wird nicht funktionieren! Zahia darf zwar dirigieren, aber ihr schärfster Konkurrent, ein Sohn aus reichem Hause, wird ihr ständig vorgezogen. Erst als Celibidache, der am Konservatorium unterrichtet, ihr unglaubliches Talent entdeckt und sie in seiner Meisterklasse aufnimmt, ändert sich einiges. Doch auch der Stardirigent hat seine Vorurteile: „Frauen haben am Dirigentenpult nichts zu suchen.“

Doch der Weg ist steinig. Zahias Mentor entpuppt sich als strenger Lehrer, der auch vor Beleidigungen nicht halt macht. Fettouma wird aus undurchsichtigen Gründen ein Preis verweigert, und Zahia scheitert bei einem Dirigier-Wettbewerb im Besançon schon in der ersten Runde: Dort musste sie statt eines Orchesters nur zwei Pianisten dirigieren – was für ein Irrsinn!

Zahia überredet einige Mitglieder des Konservatoriums-Orchesters, mit ihr und ihrer Schwester ein eigenes Orchester zu gründen, das schon einen Namen hat: „Divertimento“. Geprobt wird in einem Saal in den Banlieues, in Absprache mit dem lokalen Bürgermeister. Das ist für die reichen Pariser fast schon eine Weltreise – ins „Ausland“.

Doch kurz vor dem erhofften Erfolg will die mutlose und verzweifelte Zahia aufgeben. Und hier inszeniert Marie-Castille Mention-Schaar eine der schönsten und herzzerreißendsten Finalszenen, die wir in diesem Jahr im Kino zu sehen bekommen. Zahia wacht morgens in ihrem Hochhaus auf. In der Ferne hört sie einen ihr natürlich bekannten Rhythmus. Neugierig geworden, schaut sie von ihrem Balkon nach unten. Dort sitzt ein einsamer Schlagzeuger, der das „Bolero“-Motiv spielt – immer und immer wieder. Bis sich alle anderen Musiker von „Divertimento“ dazu gesellen. Wem hier nicht die Tränen kommen…

Man muss klassische Musik mögen, sonst ist man in DIVERTIMENTO – EIN ORCHESTER FÜR ALLE fehl am Platze. Die Regisseurin und ihre beiden musikalischen Beraterinnen – die (echten) Zahia und Fettouma Ziouani – haben ganz bewusst populäre und leichtgewichtige Stücke ausgewählt (also kein Mahler wie in „Tár“): „La Bacchanale“ von Camille Saint-Saëns, den „Tanz der Ritter“ aus Serge Prokofjews Ballett „Romeo und Julia“, ein bisschen Schubert und natürlich Ravels „Bolero“. Und die beiden jungen Schauspielerinnen sind eine Klasse für sich. Dazu ist die Inszenierung wohltuend unaufdringlich und sehr elegant. Dieses grandiose Plädoyer für mehr Toleranz ist ein emotionaler Triumph!

DIVERTIMENTO – EIN ORCHESTER FÜR ALLE hat in diesem Jahr das Internationale Filmfest Emden-Norderney eröffnet und wurde dort mit dem Score Bernhard Wicki-Preis ausgezeichnet.

Trailer

Im Rahmen der Berichterstattung
ab6

Originaltitel

Divertimento (Frankreich 2022)

Länge

115 Minuten

Genre

Biopic / Drama

Regie

Marie-Castille Mention-Schaar

Drehbuch

Marie-Castille Mention-Schaar

Darsteller

Oulaya Amamra, Lina El Arabi, Niels Arestrup, Zinedine Soualem, Nadia Kaci, Laurent Cirade, Marin Chapoutot, Louis Damien Kapfer, Salomé Desnoues, Aurélien Carou, Léonard Louf, Jonas Ben Ahmed, Louise Legendre, Martin Gillis, Adèle Théveneau, Rémi Lecomte, Emmanuel Coppey, Benoit Del Grande, Darline Saint Felix, Tifenn Giraudeau, Adèle Gal, Ambre Munie, Barbara Soller, Pierre Xifaras, Leila Hilmi, Félicien Garcia, Laurence Pierre

Verleih

Prokino Filmverleih GmbH

Filmwebsite

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