Der Film der Woche

Utøya 22. Juli

20.09.2018

Die 18-jährige Kaja (Andrea Berntzen) verbringt mit ihrer jüngeren Schwester Emilie (Elli Rhiannon Müller Osborne ) ein paar ausgelassene Ferientage in einem Sommercamp auf der norwegischen Insel Utøya. Es gibt Streit zwischen den Schwestern und Kaja geht alleine zu dem geplanten Barbecue. Angeregt diskutieren die Jugendlichen über aktuelle politische Entwicklungen, als plötzlich Schüsse fallen. Erschrocken suchen Kaja und die anderen Schutz im Wald. Rasend kreisen ihre Gedanken. Was passiert um sie herum? Wer sollte auf sie schießen? Kein Versteck scheint sicher. Doch die Hoffnung auf Rettung bleibt. Und Kaja setzt alles daran, Emilie zu finden. Während die Schüsse nicht verstummen wollen. 

Kritik

Darf man einen (fiktionalen) Film über ein solch schreckliches Ereignis drehen, wie den Anschlag auf ein Jugendcamp auf der norwegischen Insel Utøya? Dazu gibt es von mir ein ganz klares JA – wenn man es so macht, wie UTØYA 22. JULI… 

Auch ich hatte vor der Sichtung des Films so meine Zweifel, das gebe ich gerne zu. Schließlich zählt das Attentat vom 22. Juli 2011 zu den schwärzesten Tag der modernen, norwegischen Geschichte. Wenn man jedoch die Beweggründe des Regisseurs Erik Poppe kennt und seine Herangehensweise an das Thema, dann kann man eigentlich zu keinem anderen Schluss kommen. Deshalb ist meine Meinung zu diesem Film auch so dermaßen gefestigt, wie zu keinem anderen Film. All das beruht zum einen auf dem Q&A im Anschluss an die Vorführung beim Filmfest Emden-Norderney, sowie auf einem Interview, dass ich dort mit dem Regisseur führen durfte. 

Sieben Jahre sind mittlerweile seit dem Attentat vergangen und während man aus den Medien inzwischen alles, aber auch wirklich alles über den Attentäter weiss, bleiben die Opfer vergessen. Seit vielen Jahren streitet man sich in Norwegen um irgendeine Art von Denkmal, findet jedoch partout zu keinem Ergebnis. Und so verblasst die Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse mehr uns mehr.  Das wurde Erik Poppe besonders in Gesprächen mit Angehörigen und Hinterbliebenen der Opfer deutlich. Und was passiert, wenn ein solches Ereignis in Vergessenheit gerät? Genau, es wird irgendwann wieder geschehen. Diese Mischung aus Angst und Wut führte letztendlich zur Entstehung des Films. 

Aber wie nähert man sich einem solchen Ereignis, ohne den Respekt vor den Opfern zu verlieren und dem Täter erneut Aufmerksamkeit zu verschaffen? Poppe hat dafür seinen eigenen Weg gefunden. Mehr als zwei Jahre hat er sich mit Überlebenden und Hinterbliebenen getroffen und sich ihre Geschichten angehört. Entstanden ist daraus eine fiktionale Geschichte, die stellvertretend für alle steht. Denn Poppe wollte unbedingt vermeiden, dass sich irgendwer in der Geschichte wiederentdeckt und das Trauma noch einmal durchleben muss. 

Gedreht wurde UTØYA 22. JULI ohne einen einzigen Schnitt – zumindest die 72 Minuten, die das Attentat andauerte. Während viele Kritiker noch vor der Erstaufführung auf der Berlinale im Februar 2018 kritisierten, dass das ja ein ziemlich eitles Verhalten eines Regisseurs sei, ließen sie außer Acht, warum sich der Regisseur für diese Art des Drehs entschieden hat. Er wollte nämlich schlichtweg, dass sich die Zeit wie eine eigenständige Figur anfühlt und das ist ihm wirklich extrem gut gelungen. Durch das Fehlen eines Schnitts spürt man als Zuschauer, wie lange sich 72 Minuten anfühlen können, wenn man verängstigt versucht, vor einem unbekannten Angreifer zu fliehen. 

Ingesamt wurde der Film fünf Mal gedreht, wobei man in der Drehwoche von Montag bis Freitag jeweils nur einen Durchgang pro Tag gefilmt hat. Alles andere wäre auch unverantwortlich gegenüber den Darstellern gewesen. Schließlich musste man um alles in der Welt vermeiden, weitere Traumata zu erschaffen. Dafür sorgte auch ein großes Aufgebot von Psychologen, die sich vor und nach den Drehs um die Beteiligten gekümmert haben. Die Version, die wir jetzt im Kino zu sehen bekommen, ist im Übrigen die Donnerstags-Einstellung, also der vorletzte Dreh. 

Und wer den Abspann genau verfolgt, der wird erkennen, dass trotzdem ein Cutter genannt wurde. Warum das, mag man sich fragen, wenn es doch keine Schnitte gab? Nun, Erik Poppe hat seinen vertrauten Cutter Einar Egeland am Set gehabt, der sich jeden Abend das aufgenommene Material angesehen hat und für den nachfolgenden Drehtag Verbesserungen vorschlagen hat. 

Wie bereits eingangs erwähnt, wollte Poppe dem Attentäter keinerlei Raum in seinem Film gewähren. Daher sieht man ihn auch nicht ein einziges Mal. Nur in einer Szene ist er für den Bruchteil einer Sekunde als Silhouette auf den Klippen zu sehen. Diese Szene lässt einem als Zuschauer wortwörtlich das Blut in den Adern gefrieren. 

Andere Kritiker werden dem Film zudem vor, er sei wie ein Horrorthriller inszeniert. Natürlich sind hier gewisse Parallelen zu erkennen, schließlich befinden sich hier Menschen auf der Flucht vor einer unbekannten Bedrohung – ein typisches Szenario eines Horrorfilms. Doch im Gegensatz zelebriert UTØYA 22. JULI den Horror nicht. Es gibt keine langen Einstellungen von umherliegenden Leichen. Die gibt es zwar auch hier, aber sie werden nur peripher wahrgenommen. Sie sind hier und dort vorhanden, aber bevor man erkennen kann, ob es sich um einen (toten) Menschen handelt, ist er bereits wieder aus dem Blickfeld der Kamera verschwunden. 

Eine besondere Erwähnung verdient aber noch die Hauptdarstellerin Andrea Berntzen. Sie verleiht ihrer Figur Kaja eine solche Glaubwürdigkeit, dass man sicher sein kann, in Zukunft noch viel mehr von ihr zu hören und zu sehen. Wie Erik Poppe sie gefunden hat, hat er mir zudem im Interview verraten (siehe weiter unten).

Über den fertigen Film haben sich die Überlebenden und die Hinterbliebenen der Opfer dahingehend geäußert, dass sie vollends hinter dem Film stehen und die Herangehensweise als die einzig richtige erachten. Und wenn diese Menschen sagen, dass der Film so wie er ist, die korrekte Herangehensweise an diese schreckliche Tat ist, dann haben wir als Außenstehende nicht das Recht zu sagen, dass dem nicht so sei. Und wer weiß, vielleicht wird ja UTØYA 22. JULI in Zukunft einmal das Mahnmal, dass sich viele erhoffen. Verdient hätte es der Film allemal. 

Interview

Im Rahmen des Filmfests Emden-Norderney stand mir der Regisseur Erik Poppe Rede und Antwort: 

Über den Regisseur Erik Poppe

Erik Poppe ist einer der renommiertesten Regisseure Norwegens, der von Publikum und Kritikern gefeiert wird. Geboren 1960 in Oslo, begann Poppe seine Karriere als Pressefotograf und wurde für seine Arbeiten mehrfach ausgezeichnet. Nach dem Studium am Stockholmer Dramatiska Institutet war er als Kameramann an verschiedenen Spielfilmen beteiligt, bevor er 1998 mit SCHPAAA sein Regiedebüt vorlegte, das 1999 im Panorama der Berlinale gezeigt wurde. Der Film markiert den ersten Teil seiner vielfach preisgekrönten Oslo-Trilogie. Für den zweiten Teil HAWAII, OSLO wurde er 2005 mit dem norwegischen Filmpreis Amanda ausgezeichnet. Mit TROUBLED WATER, der als erster Film in der
Geschichte des Hamptons International Film Festivals sowohl Publikumspreis als auch Preis für den Besten Film abräumte, schloss er 2008 die Reihe ab. Sein Film THE KING’S CHOICE – ANGRIFF AUF NORWEGEN war 2017 auf der Shortlist für den Oscar® in der Kategorie Bester Fremdsprachiger Film. Mit UTØYA 22. JULI wurde Erik Poppe 2018 in den Wettbewerb der Berliner Filmfestspiele eingeladen. Erik Poppe ist der einzige Regisseur, der viermal mit dem norwegischen Film Critics Award ausgezeichnet wurde.

Trailer

Im Rahmen der Berichterstattung
ab16

Originaltitel

Utøya 22 July (Norwegen 2018)

Länge

93 Minuten

Genre

Drama

Regie

Erik Poppe

Drehbuch

Siv Rajendram Eliassen, Anna Bache-Wiig

Darsteller

Andrea Berntzen, Elli Rhiannon Müller Osborne, Aleksander Holmen, Brede Fristad

Verleih

Weltkino Filmverleih GmbH

Filmwebsite

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