Der Film der Woche

Blau ist eine warme Farbe

19.12.2013

Mädchen gehen mit Jungs aus – das stellt die 15-jährige Adèle zunächst nicht in Frage. Doch das ändert sich schlagartig, als sie Emma trifft. Die Künstlerin mit den blauen Haaren lässt sie ungeahnte Sehnsüchte entdecken, bringt sie dazu sich selbst zu finden, als Frau und als Erwachsene. 

Kritik

Plötzlich kommt kurz vor Torschluss noch ein Film um die Ecke und wirft die persönlichen Kino-Jahrescharts über einen Haufen, weil er sich ganz unverfroren auf dem ersten Platz einnistet. Selten, äußerst selten, ist es einem Regisseur gelungen, die Geschichte einer Liebe zu erzählen und dabei so nah bei den Charaktereren zu sein, wie Abdellatif Kechiche in seinem neuen Film BLAU IST EINE WARME FARBE. Nicht zu unrecht ist der Film beim Filmfestival in Cannes als bester Film ausgezeichnet worden – doch nicht nur das: Jurypräsident Steven Spielberg verlieh die Goldene Palme zum ersten Mal in der Geschichte des Festivals nicht nur an den Regisseur, sondern auch an die beiden Hauptdarstellerinnen des Films. „Ohne sie hätte der Regisseur seine genauen und sensiblen Beobachtungen nicht umsetzen können“, so Spielberg in seiner Begründung.

In der Tat ist vor allem Adèle Exarchopoulus eine echte Entdeckung. Kechiche bleibt mit seiner Kamera immer ganz nah an ihr. So nimmt man als Zuschauer jede Regung, jede noch so kleine Träne, jede Verlegenheit, jede Begierde, ja einfach jedwede Reaktion der gerade einmal 20-jährigen Schauspielerin wahr. Und obwohl man den Eindruck hat, dass sie gar nicht so viel macht, weiß man jederzeit, wie es in ihrem tiefsten Innern aussieht.

Dabei waren die Dreharbeiten nicht gerade einfach, da Kechiche kein Regisseur im gewöhnlichen Sinne ist. Seine Art zu drehen bringt die Schauspieler mitunter an Grenzen, aber wenn man sieht, was im Endeffekt dabei herauskommt, kommt man nicht umhin, diesen Mann als Meisterregisseur zu bezeichnen – und normalerweise tue ich mich mit diesem Begriff extrem schwer.

BLAU IST EINE WARME FARBE hat aber nicht nur positive Resonanzen hervorgerufen. Einige – wenn auch wenige – Kritiker werfen ihm vor, mit den exzessiven Sexszenen des Films Grenzen zu überschreiten und den Zuschauer zum Voyeur verkommen zu lassen. Persönlich kann ich diesen Vorwurf keinesfalls unterschreiben, denn diese Szenen sind zu jedem Zeitpunkt ästhetisch, aber sie unterstreichen vor allem die ungeheure Intensität dieser Liebe und somit auch dieses Filmes.

In unseren Interviews mit Abdellatif Kechiche und Adèle Exarchopoulos haben beide gesagt, dass es nicht ihre Absicht war, einen lesbischen Film zu drehen. Vielmehr wollten Sie die Geschichte einer großen Liebe erzählen. Das ist ihnen auch vortrefflich gelungen, denn Adèle verliebt sich hier nicht in eine Frau, sondern in einen Menschen. Das dieser Mensch dann eine Frau ist, ist purer Zufall. Kechiche ist der Meinung, dass der beste Umgang mit Homosexualität darin liegt, sie zu banalisieren und in den Hintergrund zu drängen. Das schafft der Film dann tatsächlich auf eine eindrucksvolle Art und Weise.

Die größte Kunst liegt aber sicherlich darin, einen Film von knapp drei Stunden (179 Minuten) wie im Flug vergehen zu lassen. Keine Minute davon ist vergeudet, ja am Ende wünscht man sich tatsächlich, der Film würde noch lange weitergehen. Abdellatif Kechiche kann sich durchaus vorstellen, in einem weiteren Film wieder zu Adèle zurückzukehren und ihre Geschichte weiterzuerzählen. Schließlich haben wir gerade mal die ersten beiden Kapitel aus dem Leben der Adèle gesehen – im Orignal heißt der Film nämlich LA VIE D’ADÈLE – CHAPITRES 1 & 2.

Zusammenfassend sei gesagt, dass BLAU IST EINE WARME FARBE der wundervollste Film des gerade zu Ende gehenden Filmjahres ist. Eine Perle, die es zu entdecken lohnt. Eines sei dem potentiellen Zuschauer jedoch geraten. Schauen Sie den Film nach Möglichkeit im französischen Original (ggf. mit Untertiteln), um sich vollends verzaubern zu lassen.

Interviews

Wir haben den Regisseur Abdellatif Kechiche und die Hauptdarstellerin Adèle Exarchopoulos am 7. Dezember 2013 in Berlin getroffen und mit ihnen über den Film BLAU IST EINE WARME FARBE gesprochen.

» Interview mit Adèle Exarchopoulos

» Interview mit Abdellatif Kechiche

Trailer

ab16

Originaltitel

La vie d'Adèle – Chapitres 1 & 2 (Frankreich / Belgien / Spanien 2013)

Länge

179 Minuten

Genre

Drama

Regie

Abdellatif Kechiche

Drehbuch

Abdellatif Kechiche, Ghalya Lacroix

Darsteller

Adèle Exarchopoulos, Lèa Seydoux, Salim Kechiouche, Mona Walravens, Jérémie Laheurte, Alma Jodorowsky, Aurélien Recoing, Catherine Salée, Fanny Maurin, Benjamin Siksou, Sandor Funtek

Verleih

Alamode Filmdistribution OHG

Filmwebsite

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