Manchmal hat man gleich in den ersten Minuten das Gefühl, dass das ein guter Film wird, aber selten hält das bis zum Schließen des Vorhangs an. Nicht so bei ALLE DIE DU BIST von Michael Fetter Nathansky: Mit seinem magischen Realismus legt er einen unfassbar starken Film vor, der mich tief beeindruckt hat.
Nadine (Aenne Schwarz) ist alleinerziehend und verlässt mit 24 Jahren ihre brandenburgische Heimat, um einen Job als Fabrikarbeiterin in der Kohleindustrie anzutreten. Als sie sich in ihren impulsiven Kollegen Paul (Carlo Ljubek) verliebt, fühlt sie sich das erste Mal in ihrem Leben angekommen. Zwischen den beiden entwickelt sich ein große Liebe, doch sieben Jahre später spürt Nadine eine Veränderung. Sie nimmt Paul fortan nur noch in seiner „wahren“ äußeren Gestalt wahr, die ihr jedoch zunehmend fremd erscheint. Obwohl er sich liebevoll um seine Stieftochter kümmert, beginnt sich ihre Liebe für ihn aufzulösen. Während zudem noch ihr Arbeitsplatz durch den Strukturwandel in der Kohleindustrie bedroht ist, beschließt sie, um ihre Liebe zu Paul zu kämpfen und versucht die Rollen, die sie einst in ihm sah, wiederzubeleben.
Was passiert, wenn der Mensch, den du liebst, auf einmal zu einem Fremden wird? Eine Frage, die sich vermutlich schon sehr viele Menschen in einer Beziehung gestellt haben. Doch was, wenn sich der Partner gar nicht verändert hat, sondern lediglich die eigene Sicht auf ihn? Wie findet man die Liebe wieder, die verloren scheint? Michael Fetter Nathansky stellt sich dieser Frage in seinem Film ALLE DIE DU BIST und versucht, sich der inneren Zerrissenheit seiner Hauptfigur zu nähern. Dabei greift er auf einen sensationellen Kniff zurück und zeigt die Figur des Paul ausschließlich aus Sicht seiner Protagonistin – und das in verschiedenen Formen. Mal ist Paul ein Jugendlicher (Youness Aabbaz), mal ein Kind (Sammy Schrein) und mal eine alte Frau (Jule Nebel-Linnenbaum). Das muss man sich jedoch als Zuschauer selbst erarbeiten, denn eine Erklärung liefert der Regisseur zu keinem Zeitpunkt. Das ist aber auch gut so, denn ich mag Filme, in denen Filmemacher ihrem Publikum vertrauen.
Zugegeben, kurz hatte ich das Thema Schizophrenie vor Augen, aber das hat sich genauso schnell wieder aus meinen Gedanken verflüchtigt, wie es aufgetaucht ist.
ALLE DIE DU BIST ist aber auch deshalb so gut geworden, weil sich der Film vollends auf die unbändige Spielkraft von Aenne Schwarz verlassen kann. Ihre darstellerische Leistung ist es, die den Film erdet und uns ganz nah an die Figur der Nadine herankommen lässt. Dadurch sind wir auch bereit, ein paar wenige hölzern wirkende Szenen mit Laiendarstellern zu übersehen.
Auf der diesjährigen Berlinale war ALLE DIE DU BIST mein allererster Film und der starke Eindruck hat sich auch bis zum Ende des Festivals nicht verflüchtigt. Jetzt kommt der Film endlich auch regulär in die Kinos und ich lege ihn jedem ans Herz, der auf der Suche nach etwas Substanz im Kino ist.
Auf der Berlinale standen mir die Schauspielerin Aenne Schwarz und der Drehbuchautor und Regisseur Michael Fetter Nathansky Rede und Antwort zu ihrem Film ALLE DIE DU BIST.
Alle die Du bist (Deutschland 2023)
108 Minuten
Drama / Romanze
Michael Fetter Nathansky
Michael Fetter Nathansky
Aenne Schwarz, Carlo Ljubek, Youness Aabbaz, Sara Fazilat, Jule Nebel-Linnenbaum, Sammy Schrein, Naila Schubert, Skyla Theissen, Alexandra Huber, Dagmar Sachse, Moritz Klaus, Peter Brachschoss, Nadja Zwanziger, David Hürten, Sven Seeburg
Port au Prince Pictures GmbH