Nach ihrem Sensationserfolg „Systemsprenger“ und einem Ausflug zu Netflix ist Nora Fingscheidt zurück auf der großen Leinwand. In der Berlinale-Sektion „Panorama“ hat ihr neuester Film THE OUTRUN seine Weltpremiere gefeiert, mit einer eindrucksvollen Saoirse Ronan in der Hauptrolle.
Nach mehr als zehn Jahren in London zieht Rona (Saoirse Ronan) wieder zurück in ihre Heimat auf den Orkney-Inseln im Norden Schottlands. Dort entdeckt sie langsam aber sicher die einzigartige Landschaft wieder, während sich ihre Kindheitserinnerungen mit denen aus der jüngeren, von einer Alkoholsucht geprägten Zeit vermischen. Ihr damaliger Aufbruch in ein neues Leben in der Großstadt führte sie in ein ausschweifendes Lebens, dass in einem schweren Absturz mündete. Langsam aber sicher wird die Begegnung mit der rauen Natur der Orkneys zu einer Chance auf ein neues Leben.
Diese Kombination musste einfach funktionieren: Saoirse Ronan gehört bereits seit vielen Jahren zu meinen absoluten Lieblingsschauspielerinnen, der schottischen Landschaft bin ich eh verfallen, und Nora Fingscheidt hat mich mit ihrem Film „Systemsprenger“ seinerzeit mehr als abgeholt. Klar, dass sich meine Erwartungen schon vorab ins schier Unermessliche gesteigert haben. In der Regel fällt die Ernüchterung dann umso größer aus, doch zum Glück ist das bei THE OUTRUN nicht einmal ansatzweise der Fall.
Der Film basiert auf den gleichnamigen Memoiren von Amy Liptrot, die auch an der Entwicklung des Drehbuchs beteiligt war. Der Dreh auf den Orkney-Inseln fand tatsächlich in denselben Gebäuden statt, in denen Amy Liptrot gelebt hat. Um sich eine gewisse Distanz und künstlerische Freiheit zu verschaffen, gaben Nora, Saoirse und Amy daher der Hauptfigur einen neuen Namen: Rona – nach einer kleinen unbewohnten Insel, die von der Liptrot-Farm aus zu sehen ist. Das verriet Nora Fingscheidt beim Q&A nach der Vorführung auf der diesjährigen Berlinale, wo THE OUTRUN seine Weltpremiere feierte.
Filme über Alkoholismus sind immer schwierig, da viel zu häufig die Gefahr besteht, in Klischees abzudriften oder gar die Krankheit zu verharmlosen. Von beidem ist Nora Fingscheidts Film zum Glück meilenweit entfernt. Das liegt natürlich vor allem an Saoirse Ronan, die man hier so ausdrucksstark spielen sieht wie vermutlich in keinem ihrer vorhergehenden Filme. Es gelingt ihr immer wieder, die alkoholischen Exzesse so überzeugend auf die Leinwand zu bringen, dass man ihr bei jedem einzelnen gebannt und mitfühlend zuschaut. Wo andere Schauspieler:innen gerne zum Overacting neigen, findet sie genau die richtige Spielweise.
Auch die raue, unbändige Landschaft der Orkney-Inseln fängt Fingscheidt gemeinsam mit ihrem Kameramann Yunus Roy Imer perfekt ein. Ich war selbst vor ein paar Jahren dort und kann bestätigen, dass die Natur dort noch mal eine andere ist im Vergleich zum schottischen Festland. Dass sie sich aber durchaus positiv auf die Seele auswirken kann, ist nicht nur denjenigen bewusst, die einmal selbst dort gewesen sind, sondern jedem, der sich auf THE OUTRUN einlässt.
Doch auch in der wilden Natur verschwinden die Probleme nicht über Nacht, und so muss Rona feststellen, dass sich die eigentlich viel schneller geplante Rückkehr nach London verschieben wird. Ihre Eltern leben inzwischen getrennt, und während die streng gläubige Mutter der Meinung ist, ihre Tochter am Besten durch viele Gebete helfen zu können, kämpft ihr Vater mit eigenen Problemen. Er lebt inzwischen in einem Wohnwagen auf der alten Farm, nachdem er gezwungen war, das Haus zu verkaufen. Und da seine bipolare Störung das Leben auch nicht unbedingt besser macht, muss Rona erst einmal ihm unter die Arme greifen, bevor sie sich selbst helfen kann. Das klingt auf den ersten Blick, als würde der Film zu viele Schauplätze bzw. Probleme anpacken wollen, aber dem ist glücklicherweise nicht so. THE OUTRUN zeigt dadurch, dass der eigene Heilungsprozess keine gerade Landstraße ist, sondern viel mehr eine holprige, schlecht ausgebaute, einspurige Straße ist, wie man sie in Schottland ziemlich häufig findet.
Um sich ganz auf sich selbst konzentrieren zu können, zieht Rona noch einmal weiter auf die nördlichste der Orkney Inseln, Papa Westray, um dort für die Royal Society for the Protection of Birds (RSPB) Ausschau nach den Wachtelkönigen zu halten. Diese inzwischen nur noch ganz selten zu findenden Vögel waren auf den Orkneys einst weit verbreitet.
Die Geschichte erzählt Fingscheidt übrigens nicht chronologisch, sondern über mehrere Zeitebenen verschachtelt. Das verleiht dem Film eine äußerst gesunde Dynamik, die uns Zuschauern auch mal die Gelegenheit gibt, zur Ruhe zu kommen. Die Orientierung fällt dabei erstaunlicherweise gar nicht so schwer, sofern mal realisiert, dass Saoirses Haarfarbe in jedem Teil eine andere ist. Mit THE OUTRUN ist Nora Fingscheidt nicht weniger als ein kleines Meisterwerk gelungen, das auch nach dem Verlassen des Kinosaals im Kopf bleibt. Bravo!
The Outrun (Großbritannien / Deutschland 2024)
119 Minuten
Drama
Nora Fingscheidt
Nora Fingscheidt, Amy Liptrot
Saoirse Ronan, Paapa Essiedu, Stephen Dillane, Saskia Reeves, Nabil Elouahabim, Izuka Hoyle, Lauren Lyle
Studiocanal GmbH