Schon Franz Kafka hat verstanden, wie man die Absurditäten des Alltags in einer hintergründigen Parabel verdichtet. In seinem makabren Psycho-Thriller THE MENU gelingt es Regisseur Mark Mylod auf kongeniale Weise, wie man unsere moderne Welt abbildet, indem man schlicht und einfach eine paar Gäste beim Dinieren in einem Edelrestaurant beobachtet. Denn an diesem Abend geht so einiges schief. So viel darf ich verraten…
Der Möchtegern-Yuppie Tyler (Nicholas Hoult) hatte lange dafür gespart, mit seiner Freundin eines der renommiertesten Restaurants der USA zu besuchen: das legendäre „Hawthorn“. Das liegt auf einer abgelegenen Insel vor der Südostküste und ist nur mit einer Privatfähre zu erreichen. Für einen Tisch im Speisesaal müssen die Gäste einen horrenden Preis bezahlen.
Als Tylers Freundin im letzten Moment abspringt, engagiert er das Escort-Girl Margot (Anya Taylor-Joy), was schon beim Einlass für Ärger sorgt: „Sie stehen nicht auf der Gästeliste.“ Nur widerwillig betritt Margot das Schiff und bekommt schon an Bord wie alle anderen eine exquisit angerichtete Auster serviert. Auf der Insel werden dann die Gäste von Elsa (Hong Chau) über das Anwesen geführt – dabei dürfen sie auch die Schlafbaracke, in der alle Angestellten leben, bewundern.
Im Speisesaal werden sie endlich von Chefkoch Slowik (Ralph Fiennes) persönlich begrüßt, der in der einsehbaren Show-Küche die Fäden zieht. Gleich der erste Gang bietet eine Überraschung: Auf dem opulent dekorierten Teller verlieren sich neben Sand und Steinen einige Algen und Kräuter, umgeben von sehr viel Salzwasser. „So leben wir hier“, ist Slowiks schlichter Kommentar. Auch der zweite Gang verstört: „Brot regiert die Welt – doch wir bieten nur diverse Brotbelege, aber kein Brot.“ Auch nach mehrmaligem Bitten servieren die Kellner kein Brot.
Der Ansatz ist klar: Hier wird offensichtlich die „Nouvelle Cuisine“ durch den Kakao gezogen – mit Anleihen bei Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Aber da alle für den Besuch sehr viel Geld bezahlt haben, schlucken die Gäste ihren Ärger herunter. Als einer von ihnen die Insel vorzeitig verlassen will, wird er von der Coast Guard aufgegriffen und zurückgebracht – sie steckt mit Slowik unter einer Decke. Und inzwischen sind alle Außentüren abgeschlossen.
Wie in einem klassischen Agatha-Christie-Krimi will sich Slowik an seinen Gästen rächen, die ihm in der Vergangenheit übel mitgespielt haben. Nur Margot wagt eine Provokation: „Alle Ihre Gänge haben mir nicht geschmeckt. Ich hätte gerne einen Cheeseburger!“ Den sie dann auch serviert bekommt – von Slowik persönlich zubereitet. Alle anderen müssen sich mit einem gigantischen Marshmellow-Dessert zufrieden geben, das Regisseur Mark Mylod als Verhöhnung der US-amerikanischen Esskultur genussvoll inszeniert.
Dass der Abend nicht unblutig zu Ende geht, ist wohl inzwischen jedem klar. Ähnlich wie der Schwede Ruben Östlund in seinem Cannes-Sieger „Triangle of Sadness“ gelingt Mylod mit THE MENU eine bitterböse Sozialsatire über den Zustand der Welt. Östlund wählte einen größer rahmigen Ansatz, Mylod geht spürbar komprimierter vor. Und es funktioniert. Viele denken hier an Peter Greenaways Meisterwerk „Der Koch, der Dieb und der Liebhaber“ – doch in THE MENU geht es nicht (obwohl dies so mancher Zuschauer erwartet hatte) um Kannibalismus.
THE MENU ist ein brillanter, vielschichtiger Spaß – trotz der vielen Toten. Anya Taylor-Joy und Ralph Fiennes spielen dabei wie immer sensationell.
The Menu (USA 2022)
108 Minuten
Satire / Thriller
Mark Mylod
Seth Reiss, Will Tracy
Ralph Fiennes, Anya Taylor-Joy, Nicholas Hoult, Hong Chau, Janet McTeer, Reed Birney, Judith Light, Paul Adelstein, Aimee Carrero, Arturo Castro, Rob Yang, Mark St. Cyr, John Leguizamo
Walt Disney Studios Motion Pictures Germany GmbH