Als vor einem dreiviertel Jahr der Film „Corsage“ von Marie Kreutzer in unsere Kinos kam, merkte nicht jeder sofort den modernen Ansatz der österreichischen Regisseurin, das Leben der Kaiserin Elisabeth – seit Romy Schneiders drei Filmen besser bekannt als „Sissi“ – gegen den Strich zu inszenieren. Hier gelang es Marie Kreutzer, ein scheinbar dröges und ausgelutschtes Thema völlig neu und überraschend zu beleuchten – als kluge Reflexion über den Feminismus im 19. Jahrhundert und über den Zerfall eines Regimes. Mit SISI & ICH liefert jetzt Frauke Finsterwalder einen ebenso genialen Gegenentwurf ab.
Auch diesmal sehen wir zu Beginn, wie eine Frau in ein Korsett gezwängt wird. Doch jetzt es ist nicht Kaiserin Sisi (Susanne Wolff) sondern ihre künftige Hofdame Irma Gräfin von Sztáray (Sandra Hüller), die von ihrer Mutter (Sibylle Canonica) zu diesem Job genötigt wurde. Bei der Ankunft am kaiserlichen Hof will sich Irma noch schnell einen lästigen Pickel ausdrücken, ehe ihre Vorgängerin (Johanna Wokalek) sie auf Herz und Nieren prüft. Dann fährt Irma auf die griechische Insel Korfu, wo Sisi mit Graf von Berzeviczy (Stefan Kurt) und zwei ihr treu ergebenen blutjungen Hofdamen in einer Art adliger Kommune lebt – fernab der für sie lästigen Wiener Hofstaat-Rituale. Die Ehe mit Kaiser Franz Joseph (Markus Schleinzer) ist längst nur noch Fassade.
Gleich bei der Ankunft wird Irma vom Grafen aufgefordert, einen Sprint und einen Hürdenlauf zu bewältigen, was Sisi vom Fenster aus aufmerksam beobachtet. Ist die neue Erste Hofdame fit genug für ihre ungewöhnliche Aufgabe? Bei ihren täglichen Ausflügen freundet sich Irma mit Sisi an – beide finden Gefallen aneinander. Leider muss die von Jugend auf gehemmte Irma der übermütigen Kaiserin alles nachmachen, einschließlich eines spektakulären Sprungs von einer steilen Klippe ins Meer.
Für Abwechslung sorgt Sisis schwuler Schwager, Erzherzog Viktor (Georg Friedrich), der bei seinem Besuch den denkwürdigen Satz äußert, als es um menschliche Organe geht: „In meinem Darm habe ich sicherlich mehrere Liter Offizierssperma.“ (Für mich einer der absurdesten Kinosätze des Jahres!)
Zu dumm, dass die Idylle auf Korfu allmählich Risse bekommt. Denn Irma verliebt sich unsterblich in die schöne Kaiserin – und muss leiden. Diesen Zwiespalt spielt Sandra Hüller („Toni Erdmann“) mit faszinierender Vielschichtigkeit. Nach einer gemeinsamen Reise nach England mit einem Besuch bei Queen Victoria (Annette Badland) wird Sisi vom Kaiser genötigt, nach Wien zurückzukehren: Er hat genug von ihren Eskapaden.
Am Ende erlaubt sich Regisseurin Frauke Finsterwalder eine verblüffende Pointe, die man eigentlich nur Quentin Tarantino zugestehen will: Sie verfälscht beim Tod von Sisi am Genfer See die europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts. Das müssen wir akzeptieren – oder auch nicht!
SISI & ICH ist die melodramatische und stellenweise auch urkomische Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft (und einseitiger Liebe), gespielt von zwei grandiosen Schauspielerinnen. Für dieses faszinierende Psychogramm wählte Frauke Finsterwalder einen ähnlichen Verfremdungseffekt wie Marie Kreutzer in „Corsage“: Sie lässt moderne Popsongs erklingen, die mit dem 19. Jahrhundert aber auch gar nichts zu tun haben. Mein Höhepunkt: Nico singt „Afraid“ – mit John Cale an der Bratsche. Zum Heulen schön!
Schade, dass „Double Features“ aus der Mode gekommen sind. „Corsage“ und SISI & ICH nacheinander – welch ein Kinoabend!
Sisi & Ich (Deutschland / Schweiz / Österreich 2023)
123 Minuten
Komödie / Drama / Biographie
Frauke Finsterwalder
Frauke Finsterwalder, Christian Kracht
Sandra Hüller, Suasanne Wolff, Stefan Kurt, Georg Friedrich, Sophie Hutter, Maresi Riegner Johanna Wokalek Sibylle Canonica Angela Winkler Markus Schleinzer Anne Müller, Anthony Calf, Tom Rhys Harries, Annette Badland, Ravi Aujla, Tom Lass, Sandra Schwittau, Hope Finsterwalder, Paul Portelli, William Erazo Fernandez
DCM Film Distribution GmbH