Oslo Stories: Sehnsucht

22.05.2025

Nur auf den ersten Blick ist die Oslo-Trilogie von Dag Johan Haugerud ein Filmzyklus über die Einwohner der Hauptstadt Norwegens. Denn der Regisseur und Drehbuchautor will viel mehr: uns in diesem Mikrokosmos die ganze Welt zeigen. Dieser philosophische Ansatz muss belohnt werden – diese norwegische Trilogie ist DER cineastische Höhepunkt des Jahres. Jetzt kommt der dritte Teil OSLO STORIES: SEHNSUCHT in unsere Kinos.

Ähnlich wie der Pole Krzysztof Kieślowski in seiner Drei-Farben-Trilogie „Blau/Weiß/Rot“ (1993/94) schwebte Haugerud ein universelles Konzept vor – Dinge zu hinterfragen, mit denen sich die gesamte Menschheit auseinandersetzt. Bei Kieślowski ging es um die Begriffe „Freiheit“, „Gleichheit“ und „Brüderlichkeit“ (nach dem Motto der Französischen Revolution), bei Haugerud geht es um „Sex“, „Träume“ und „Liebe“. Leider hat der deutsche Verleih den ursprünglichen Titel „Sex“ in SEHNSUCHT umgewandelt, was Haugeruds Idee in meinen Augen unnötig verwässert.

Und auch die Reihenfolge, in der der Regisseur die drei Teile geplant hatte, ist in Deutschland umgedreht worden. Zwar sind alle drei Filme als einzelne Werke zu konsumieren – schließlich erzählt Haugerud drei unterschiedliche Geschichten mit jeweils anderen Schauspielern (bis auf eine Ausnahme!) -, doch dabei entgeht uns der innere Spannungsbogen, durch den erst der finale Höhepunkt mit „Oslo Stories: Liebe“ erkennbar wird.

Diese komplizierte und durchdachte, aber nie aufdringliche Struktur ist schon an den symbolhaften, mitgedachten Zahlen „zwei“, „drei“ und „unendlich“ festzumachen: In SEHNSUCHT sind in den Szenen meist nur zwei Personen zu sehen, in „Träume“ sind es vorwiegend drei, und in „Liebe“ glaubt man, allen Einwohnern Oslos auf der Leinwand zu begegnen. Auch die Kameraführung wird von Film zu Film immer komplexer: In SEHNSUCHT umkreist die Kamera in ruhigen Bewegungen die redenden Personen, in „Träume“ weitet sich der Blick und die Kamera fährt ständig durch Treppenhäuser und über eine nicht enden wollende Außentreppe. In „Liebe“ sieht man dann während der vielen Fährfahrten die ganze Schönheit Oslos und der sie umgebenden Berge.

Wie in der ganzen Trilogie dreht sich auch in OSLO STORIES: SEHNSUCHT alles um sexuelle Identität und gesellschaftliche Normen. Um die Symbolhaftigkeit noch zu steigern, verzichtet Haugerud in „seinem“ ersten Teil sogar auf Namen. (Das macht es dem Autor dieser Zeilen nicht gerade leichter.)

Zwei befreundete Schornsteinfeger – Chef und Angestellter – unterhalten sich während der Mittagspause über scheinbar banale Themen. Beide sind gestandene Familienväter, leben in glücklichen Ehen und gehen liebevoll mit ihren Kindern um. Der Chef (Thorbjørn Harr) erzählt von einem wiederkehrenden bizarren Traum: Darin trifft er David Bowie, der ihn auf eine Weise betrachtet, als würde er in ihm eine Frau sehen. Das wühlt den Schornsteinfeger in einer Weise auf, die er sich nicht erklären kann. Das führt sogar dazu, dass seine Stimme darunter leidet. Er singt regelmäßig in einem christlichen Chor, doch jetzt trifft er die Töne nicht mehr.

Sein Kollege (Jan Gunnar Røise) rückt nach einigem Zögern mit einer ungewöhnlichen Geschichte über eine Begegnung der besonderen Art raus: Er war bei der Kontrolle des Schornsteins in der Wohnung eines attraktiven schwulen Mannes, der ihn unverblümt dazu aufforderte, mit ihm Sex zu haben. Er fühlte sich geschmeichelt, lehnte zunächst aber ab. Nachdem er das Haus verlassen hatte, kehrte er zurück und ließ sich verführen.

Wie will dieser überzeugte Hetero das Geschehene seiner Frau gestehen? Und will er das überhaupt? Wie sicher ist er sich, nicht vielleicht doch homo- oder bisexuell zu sein? Das Gespräch mit seiner Frau (Siri Forberg) wird dann zur Schlüsselszene des Films. Haugerud findet dafür einen genialen Regieeinfall: Während der zehn Minuten des Geständnisses sehen wir die Ehefrau nur von hinten. Hier verbeugt sich der Regisseur vor einem der bedeutendsten Werke der Filmgeschichte: „Vivre sa vie“ („Die Geschichte der Nana S.“, 1962) von Jean-Luc Godard. Damals erlebten wir die Nouvelle-Vague-Ikone Anna Karina in der ersten Szene minutenlang nur von hinten.

Wie werden die beiden Ehepaare – auch die Frau des Chefs (Birgitte Larsen) erfährt vom Seitensprung – mit den Ereignissen umgehen: mit dem Bowie-Traum und mit dem Schwulen-Sex? Wie latent sind die homoerotischen Neigungen der Männer? In diesem extrem dialoglastigen Film spielt Dag Johan Haugerud so einiges durch…

Zwei Schornsteinfeger auf den Dächern von Oslo – welch ein Bild! Immer wieder werden die Dialoge von wortlosen, musikalisch unterlegten Alltagsszenen interpunktiert: Hochhäuser, leere Plätze, Rush-Hour-Straßenverkehr – und immer wieder Dächer.

Wir hatten Krzysztof Kieślowski. Vorher hatte uns Éric Rohmer gleich mit drei Filmzyklen beglückt: „Sechs Moralische Erzählungen“ (1962-72), „Komödien und Sprichwörter“ (1981-87) und „Erzählungen der vier Jahreszeiten“ (1989-98). Jetzt haben wir die Oslo-Trilogie von Dag Johan Haugerud. Seien wir dankbar!

Trailer

Im Rahmen der Berichterstattung
ab12

Originaltitel

Sex (Norwegen 2024)

Länge

118 Minuten

Genre

Drama

Regie

Dag Johan Haugerud

Drehbuch

Dag Johan Haugerud

Story

Dag Johan Haugerud

Kamera / Director of Photography (DOP)

Cecilie Semec

Darsteller

Thorbjørn Harr, Jan Gunnar Røise, Siri Forberg, Birgitte Larsen, Theo Dahl

Verleih

Alamode Filmdistribution OHG

Filmwebsite

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